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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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können ihm helfen!«
    Hannah sieht ein winziges bisschen interessiert aus.
    »Es ist wirklich wahr. Ehrenwort. Ich schwöre bei … bei Dads Leben.«
    »Du sollst gar nicht schwören«, sagt Hannah, doch sie legt ihren Stift beiseite. »Zeig ihn mir erst. Wenn es stimmt, dann sagen wir’s Grandpa.«
     
    Ich gehe voraus, Hannah kommt hinterher. Ich sollte mir Sorgen machen um den Mann, ich weiß, aber ehrlich gesagt finde ich es vor allem aufregend, eine Rettungsmission anzuführen. Vielleicht hätten wir Verbandmaterial mitnehmen sollen, überlege ich, oder wenigstens Aspirin.
    »Du musst übers Tor klettern«, erkläre ich Hannah. »Er ist in der Scheune. Da drüben!«
    »Davon hast du nichts gesagt, dass hier alles voller Schlamm ist«, mault Hannah. Sie weigert sich, einfach mittendurch zu laufen,so wie ich (noch dreckiger können meine Schulschuhe sowieso nicht mehr werden), sondern geht außen rum, balanciert über Steine. »Au!«
    Ich bin als Erste an der Scheune. Er ist da, in seiner Ecke; er schläft. Die Sonne ist inzwischen weitergewandert, und durch das Loch im Dach fällt ein breiter Lichtstrahl auf sein Gesicht. Wie ein gelockter Jesus sieht er aus.
    »Hallo«, flüstere ich.
    Er blinzelt mich an.
    »Autsch!«, sagt Hannah. Der Boden in der Scheune liegt tiefer als die Türschwelle, und Hannah ist umgeknickt und auf einer Holzlatte gelandet. Sie kommt hoch und packt mich am Arm. »Wo sind wir hier bloß?«
    »Da, wo er ist«, sage ich. »Guck!«
    »Wo?«, fragt Hannah. »Wo zeigst du denn hin?«
    Ich sehe hin.
    Aber er ist fort.

 
     
    Mum
     
     
    Ich will, dass Mum da ist, heute Abend. Ich will ihr von dem Mann in der Scheune erzählen. Ich will mit ihr hingehen und ihr sagen: »Da war ein Mann. Erst war er da, und dann wieder nicht. Gibt es ihn wirklich?«
    »Die Welt ist ein seltsamer, wundervoller Ort, Molly-Schätzchen.«
    Das würde sie sagen.
    »Die Welt ist ein seltsamer, wundervoller Ort«, flüstere ich, aber davon fühle ich mich nur noch einsamer als je zuvor.
    Von meinem Bett aus sehe ich Licht auf dem Treppenabsatz. Ich höre Lachen, das aus dem Fernseher kommt. Ich könnte zu Grandma und Grandpa gehen und mit ihnen sprechen. Ich könnte ihnen von der Jagd erzählen, die gestern durch unser Dorf ging. Von dem Jäger, der durch unser Dorf ritt und plötzlich verschwunden war. Ich könnte ihnen sagen, dass da ein Mann in einer Scheune ist, von dem meine Lehrerin sagt, er stirbt. Aber dass ich ihn retten werde.
    Ich rühre mich nicht.
     
    Diana Eleanor Brooke, so hieß meine Mum. Sie ist am achten August gestorben. Sie war neununddreißig. Das klingt sehr alt, ist es aber eigentlich nicht. Nicht, wenn man bedenkt, dass Grandma neunundsechzig ist und Grandpa vierundsiebzig.
    Meine Mum war wahrscheinlich der schönste Mensch auf der ganzen Welt. Sogar noch schöner als Miss Shelley. Sie hatte langeblonde Haare und eine Stupsnase voller Sommersprossen, was überhaupt nicht zu Erwachsenen passt. Weder Hannah noch ich sehen ihr besonders ähnlich. Als ich klein war, habe ich immer gehofft, meine schwarzen Locken würden irgendwann zu glatten blonden Haaren werden, sodass ich eines Tages, wenn ich groß wäre, wie Mum aussehen würde, aber das ist nie passiert. Das Einzige, was wir gemeinsam haben, sind die Sommersprossen. Außer Mum habe ich nie einen Erwachsenen mit Sommersprossen gesehen. Andererseits war Mum auch sonst nicht sehr wie andere Erwachsene. Wenn es um Fragen ging wie Zähneputzen und pünktlich ins Bett gehen, dann war sie sehr erwachsen, aber in anderen Dingen war sie wie ein kleines Kind, zum Beispiel, was Weihnachtsbäume anging oder Feuerwerk oder Feen und Geister. Sie glaubte an Geister. Sie meinte, sie hätte mal einen gesehen, als sie noch jünger war als ich jetzt. Allerdings nur ganz kurz, aus einem Autofenster. Deshalb war sie sich nie ganz sicher. Ich glaube auch an Geister, beinahe. Und ich mag Weihnachtsbäume und Bananeneis und Wellenspringen am Strand, so wie sie auch.
    Von allen Menschen hätte ich jetzt am liebsten Mum bei mir. Sie ist diejenige, der ich von dem Mann erzählen möchte. Sie würde nicht glauben, ich spiele ein Spiel oder erfinde etwas. Sie wäre nicht wie Grandma oder Hannah. Sie würde wissen, was zu tun ist. Sie würde –
    Ich weiß nicht, was sie tun würde, aber sie würde mir glauben.

 
     
    Baum und Blume
     
     
    Ich bin allein, als ich nach Hause komme. Gut so. Ich gehe direkt in die Küche. Der Laden wäre besser, aber da ist

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