Zeit der Geheimnisse
Grandma, und auch sonst würde sie sofort merken, wenn irgendetwas fehlt. Die Küche ist Grandpas Revier, und er guckt viel weniger genau hin. Ich nehme mir eine Tragetüte aus der Schublade und packe alles Mögliche hinein. Äpfel. Brot, Orangensaft. Ein Paket Schinken. Eine Dose Bohnen, eine Dose Pfirsiche, eine Dose mit einer dicken Tomatensuppe mit Reis. Eine Gabel. Streichhölzer.
Wenn ihm sonst keiner hilft, heißt das noch lange nicht, dass ich es nicht kann.
In den Hecken an der Straße wachsen Brombeeren. Immer mehr Bäume bekommen ihre Herbstfarbe – sanftes Gelb und Orange. Als wäre jemand mit einem Pinsel über die Welt gegangen, hätte die Farben neu gemischt und blasser gemacht. Die Böschungen sind voll von den harten Stielen von abgestorbenem Bärenklau. Die Luft ist frischer, kälter auch. Sie riecht nach Laub und Gras und nasser Erde.
Als ich in die Scheune trete, ist er da. Er ist wach. Und er hat sich von der Stelle bewegt. Letztes Mal lehnte er an der Wand, jetzt sitzt er zusammengekauert in der windgeschützten Ecke.
»Hallo«, sage ich.
Er sieht auf, als ich hereinkomme. »Molly – stimmt’s?«, sagt er. »Ich habe mich gefragt, ob du wohl wiederkommst.« Er streckt eine Hand aus, und ich gehe hinüber und setze mich zu ihm.
Im Abendlicht kann ich seine Beine deutlich sehen. Sie sind ein schrecklicher Anblick: dunkle Blutergüsse und Bisswunden an beiden Beinen, bis hinunter zu den Füßen. Es riecht streng, so als würde irgendetwas faulen, und Fliegen krabbeln über seine merkwürdige Hose. Ich schaue weg.
»Tun dir die Beine weh?«, frage ich.
Er gähnt und schüttelt den Kopf.
»Soll ich nicht vielleicht die Sanitäter rufen? Hilfe holen?«
»Sanitäter würden mich nicht finden«, sagt er.
Wir sitzen still nebeneinander und sehen den Staubkörnchen zu, die im Sonnenlicht tanzen, das zur Tür hereinfällt.
»Ich hab dir was mitgebracht«, sage ich. »Ich dachte, du könntest – ich meine, du würdest vielleicht gerne – also, du musst es nicht nehmen, wenn du nicht willst.«
Ich reiche ihm die Plastiktüte. Er sieht verwirrt hinein und holt eine Dose mit Pfirsichen heraus. Er dreht und wendet die Dose, schnuppert daran. Sein Mund zuckt komisch, als er das Bild auf dem Etikett ansieht, dann legt er die Dose vor sich auf den Boden.
»Hübsch«, sagt er. »Danke schön.«
»Das sind Pfirsiche, in einer Dose«, sage ich. »Kennst du keine Konservendosen?«
Er sieht mich erwartungsvoll an. Ich ziehe an dem Ring und halte ihm die offene Dose hin.
»Sieh mal, Pfirsiche.«
Er taucht einen schmutzigen Finger in den Pfirsichsirup und berührt ihn vorsichtig mit der Zunge. Ich beobachte ihn. Auf einmal guckt er ganz überrascht, dann lacht er laut.
»Das ist ja süß!«
»Du kannst es essen. Ich habe auch eine Gabel mitgebracht – hier.«
Aber er will die Gabel nicht. Er greift mit den Fingern in den Saft und isst die Pfirsichscheiben ganz. Sirup läuft ihm übers Kinn. Ich weiß genau, was Grandma dazu sagen würde, dass er mit so schmutzigen Händen isst, aber er sieht ganz vergnügt aus.
Als ich ihm das übrige Essen in der Tüte zeige, schüttelt er den Kopf.
»Genug. Das reicht schon. Danke schön.«
»Bist du nicht hungrig?«, frage ich, und er schüttelt wieder den Kopf.
Während ich mich noch darüber wundere, fällt mir etwas anderes auf. Gleich neben ihm wächst etwas aus der Erde. Ein Baum. Ein Baby-Baum. Ein Schössling.
Er ist fast so groß wie der Mann. Und ich bin mir fast sicher, dass er beim letzten Mal noch nicht da war.
»Wo kommt der denn her?«
Er blickt auf. Dann hebt er eine Hand und berührt den Zweig neben seinem Kopf. Der Zweig wächst – ich schwöre –, streckt sich aus, als wollte er sich um die Finger des Mannes wickeln. Er lässt die Hand sinken, und der neue Zweig folgt.
Und noch etwas fällt mir auf: Neben seinen Füßen wächst Gras. Das war vorher auch noch nicht da. An der Wand kriecht Efeu hoch – und hinter ihm wächst noch mehr. War das immer schon da? Oder –
Er sieht meinen starren Blick und lacht. Er streckt beide Hände aus. Sie sind leer. Er pustet darauf, und etwas beginnt zu wachsen, aus dem Nichts. Ein Samen. Ein kleiner grüner Spross. Blätter. Eine Blume.
Eine Glockenblume.
»Für dich«, sagt er und reicht sie mir.
Ich halte die Glockenblume ganz behutsam auf meiner offenenHand. Ich habe Angst, bei der kleinsten Bewegung könnte sie auf einmal nicht mehr da sein.
Er sieht mir aufmerksam ins Gesicht. Er
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