Zeit der Geheimnisse
meisten Menschen nicht lesen und schreiben konnten, deshalb wissen wir so gut wie nichts über ihn. Aber manche Leute glauben, er sei der Sommergott gewesen – oder der Gott des Frühlings. So weit klar?«
»Klar«, sage ich. Hinter Miss Shelley steht Emily und lauscht mit schief gelegtem Kopf.
»Gut«, sagt Miss Shelley. »Ihr könnt ihn euch vorstellen wie die Jahreszeiten. Er wird gleichzeitig mit dem Frühling geboren, bis zum Sommer erreicht er seine volle Kraft, im Herbst wird er immer schwächer, und im Winter stirbt er. Dann kommt die dunkle Zeit des Jahres. Nichts wächst. Die Erde ist tot. Aber dann passiert etwas Wundervolles: Der Frühling kehrt zurück, und die Welt wird wiedergeboren.«
Sie spricht davon wie von etwas Schönem. Ein Mann wird von Wölfen zerrissen – und das soll schön sein! Etwas Schrecklicheres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und dasselbe soll Jahr für Jahr passieren, solange die Erde sich dreht. Der Ärmste!
»Das ist ja furchtbar!«, sage ich. »Und wieso tut niemand wasdagegen? Oder kann niemand was dagegen tun?« Und dann frage ich noch: »Wird er jedes Mal als derselbe wiedergeboren?«
»Es ist eine Geschichte, Molly«, sagt Hannah. Hinter ihr steht Josh und kichert hinter vorgehaltener Hand. Miss Shelley schüttelt den Kopf.
»Es ist nicht klug, über Dinge zu lachen, die man nicht versteht«, sagt sie. »Eh man sich’s versieht, lachen sie über dich .«
Als die anderen wieder abgezogen sind, setze ich mich auf eine Kirchenbank, mache die Tür zu, ziehe die Füße hoch und nehme das Klemmbrett auf den Schoß. Dann fange ich an, den Mann von der Säule zu zeichnen. Sein Körper besteht aus lauter Zweigen, seine Hände sind aus Blättern. Er hat große Augen, aber keinen Mund.
Ich zeichne Männer auf Pferden, mit Hunden und Hörnern. Der größte ist Josh, der zweitgrößte Matthew. Sie grinsen mit roten Mündern, und von ihren Schwertern tropft rotes Blut. Sie jagen den Grünen Mann. Ein Mädchen mit hellem Haar und glitzernden Schuhen sieht ihnen zu. Das könnte Emily sein, vielleicht aber auch jemand anderes. Sie jubelt den Männern nicht zu, aber sie weint auch nicht.
»Sehr schön, Molly!«, sagt Mrs. Angus, als sie an meiner Bank vorbeikommt.
Emily
Wenn ich mir aussuchen könnte, wer ich sein möchte, von allen Menschen auf der Welt, einschließlich Popstars oder die Königin von England, dann wäre ich gern Emily. * Emily hat rosa Haarreifen mit Sternchen und ein Einhorn-Radiergummi und eine Mutter und einen Vater und einen kleinen Bruder, und alle zusammen wohnen sie auf einem Bauernhof. Bei Emily passt alles zusammen, ganz anders, als wenn man bei seinem Grandpa wohnt und die Hälfte seiner Sachen dreißig Kilometer entfernt in Newcastle hat.
»Emily ist der langweiligste Mensch, der mir je begegnet ist«, sagt Hannah. »Der langweiligste Mensch in ganz Großbritannien. Auf der ganzen Welt.«
Aber Hannah täuscht sich. Es stimmt schon, Emily sagt nicht viel. Im Unterricht macht sie kaum einmal den Mund auf, und in den Pausen sitzt sie bloß auf der Bank und schaut zu oder lässt sich von Josh rumkommandieren. Aber das heißt nicht, dass sie sich keine Gedanken macht. Manchmal sagt sie doch etwas im Unterricht, oder sie sieht Miss Shelley auf eine Weise an, diezeigt, dass sie zuhört und nachdenkt und sich Fragen stellt. Ich versuche ihr zu zeigen, dass ich auch nachdenke und mir Fragen stelle, aber ich weiß nicht, ob es so bei ihr ankommt. Ich weiß nicht, ob ich jemand bin, mit dem Emily gern befreundet wäre. Ich bin weder klein noch blond – ich habe kurze schwarze Locken, die ständig zerzaust sind, und ganz dunkle, fast schon schwarze Augen.
»Mein allerliebstes schwarzes Wuschelköpfchen«, sagt Grandpa. Das ist hübsch. Nur außerhalb von Grandpa-Land nützt es einem wenig.
Die Straße hinauf
Nach der Schule fahre ich mit dem Fahrrad die Straße hinauf. Draußen spielen.
Draußen spielen ist hier etwas ganz anderes als zu Hause. Zu Hause gehe ich einfach raus und rufe Katy, meine beste Freundin, oder Chloe, meine zweitbeste Freundin, und dann spielen wir auf der Straße Federball oder bauen Höhlen in Chloes Garten, oder wir machen mit Katys Computer rum oder so. Hier bei Grandpa habe ich niemanden außer Hannah, und wir beide haben auch zu Hause nie viel miteinander gespielt. Hier hatten wir bisher immer nur Krach, und einmal sind wir fast weggelaufen. Deshalb gehe ich heute ganz allein nach
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