Zeit der Gespenster
aus. »Eli, was hast du denn für einen ausgefallenen Wortschatz?«
Er zwinkerte ihr zu. »Du bist nicht die Einzige, die ein Wörterbuch lesen kann.«
Das Krankenhaus strahlte eine falsche Heiterkeit aus. Als Lucy auf das Bett kletterte, bemühte sie sich angestrengt, kein Geräusch zu machen – nicht nur weil ihre Mom und ihre Urgroßmutter schliefen, sondern weil die knisternden Decken und Plastiklaken bereits voller Leute waren, die Lucy sehen konnte, auch wenn sie damit offenbar die Einzige war.
Sie fasste sie nicht gern an, mochte es nicht, wie deren Arme und Beine sich mitten durch sie hindurchbewegten und wie ihr davon innen drin ganz kalt wurde. Sie mochte es nicht, wie sie sie anstarrten, als wären sie neidisch darauf, dass sie in einen Raum gehen konnte und bemerkt wurde, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Lucy rollte sich also ganz klein zusammen und sah zu, wie ihre Urgroßmutter sich ausruhte.
Lucy spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, als ein Mädchen neben ihr mit langen schwarzen Zöpfen und einer lustig gestreiften Schürze sie mit einem langen Finger piekste. Sie sah aus wie um die sechzehn und wirkte kränklich, die Wangen fast blau. »Ma poule« , flüsterte das Mädchen.
Plötzlich schlug Granny Ruby die Augen auf. »Du bist da«, sagte sie und streckte eine Hand nach Lucy aus.
»Ich bin mit Mama gekommen.«
Ruby blickte sich hektisch um. »Mama? Ist sie auch hier?« Doch bevor Lucy antworten konnte berührte ihre Urgroßmutter sie an der Wange. »Simone«, sagte sie. »Du bist zurückgekommen.«
»Ich bin nicht Simone«, flüsterte Lucy, aber ihre Urgroßmutter hörte schon nicht mehr zu. Und das durchsichtige Mädchen mit den schwarzen Zöpfen streckte die Hände aus und schubste Lucy vom Bett.
Am 3. Januar 2002 war Alexandre Proux vor seiner Mutter Geneviève wach geworden. Er öffnete die Hintertür, an deren Klinke er seit einer Woche heranreichte, und trottete in seinem Spiderman-Pyjama über die Veranda hinweg. Es schneite, und er wollte im Schnee spielen gehen.
Als seine Mutter aufwachte und merkte, dass er weg war, war Alexandre schon unter dem Schnee begraben. Sechs Stunden lang suchte die Polizei die ganze Gegend ab, bis sie ihn fand.
Jetzt war Alex drei und versuchte gerade, dem kleinen Beagle, den er zu Weihnachten bekommen hatte, ein Halstuch umzubinden.
»Es gibt nichts Schlimmeres«, sagte Geneviève leise, »als zu sehen, wie das eigene Kind reglos daliegt. Ich hab ständig gedacht, Gleich wacht er auf. Er öffnet die Augen und schaut mich an, und alles ist wieder gut.«
Shelby verstand, was sie meinte.
»Sie haben auch einen Sohn?«
»Ethan. Er ist neun.«
»Dann wissen Sie ja, was ich meine.«
Alex kam angelaufen und warf sich seiner Mutter in die Arme. Sie küsste ihn hinters Ohr. »Ja«, sagte Shelby. »Absolut.«
Dr. Gaspar Holessandro hatte ein schlecht sitzendes Haarteil und eine Schwäche für Sardinen. »Verzeihen Sie«, sagte er und leckte sich die Finger ab, nachdem er eine weitere Sardine aus einer Tupperware-Dose gefischt hatte. »Normalerweise esse ich nicht, wenn ich Besuch habe.« Da er ein viel beschäftigter Mann war, hatte Dr. Holessandro sich bereiterklärt, mit Eli während der Mittagspause zu sprechen. Sein Büro war winzig klein und grenzte direkt an das Kliniklabor, in dem er drei Tage die Woche forschte. Die anderen vier Tage arbeitete er in der Klinik, in die der kleine Alexandre Proux steif und blau verfärbt und vermutlich tot eingeliefert worden war.
Eli hatte mal wieder die Wahrheit ein wenig verbogen. Er hatte sich Holessandro als Detective aus Vermont vorgestellt, der den Tod eines Babys untersuche, einen Fall, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem des kleinen Alex aufweise. Er wolle wissen, ob extreme Kälte paradoxerweise die Wiederbelebung begünstigen könnte, sodass ein Baby, das erstickt worden war, plötzlich wieder anfangen könnte zu atmen, nachdem es eine Zeit lang in einem Eishaus gelegen hatte. Er sagte dem Arzt nicht, dass die Sache sich 1932 zugetragen hatte.
Holessandro biss den Schwanz einer Sardine ab. »Wenn ein Mensch erstickt«, sagte er, »kommt es zu Hypoxie, das heißt zu Sauerstoffmangel im Gewebe und in den Organen. Ein Erwachsener atmet dann immer heftiger – er hyperventiliert. Bei Kleinkindern dagegen, deren Körper sich physiologisch stark von dem eines Erwachsenen unterscheidet, blockiert die Hypoxie die Atmung. Es kann also sein, dass ein Baby, das erstickt wurde, einige
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