Zeit der Gespenster
Leben sein. Über siebzig und Erbin eines hübschen Stücks Land«, führte Eli den Gedanken zu Ende. »Außerdem könnte Ruby die Lücken füllen. Ich hab ein bisschen im Internet recherchiert. Eine gewisse Ruby Weber, geboren im Northeast Kingdom, ist 1925 mit ihrer Familie nach Comtosook gezogen und 1932 aus Vermont verschwunden. Sie lebt heute in Gaithersburg, Maryland, Thistlehill Lane 45.«
Ross erstarrte. Ruby Weber. RW . Lia hatte den um ihr Grab Versammelten doch nicht zeigen wollen, dass sie ihn liebte. Sie hatte Eli und den anderen nur die richtige Richtung gezeigt.
Als Meredith etwa in Lucys Alter war, war ihr Hund von einem Auto überfahren worden. Ihre Mutter hatte Blue vom Tierarzt einschläfern lassen, und statt sich die Augen auszuweinen, stürzte Meredith sich in die Taschenspielerkunst. Sie ließ Münzen, rote Gummibälle und kleine Papierblumensträuße verschwinden – um sie dann hinter Ohren oder aus der Besteckschublade wieder hervorzuzaubern. Sie führte diese Tricks Ruby vor, die ihre Enkelin durchschaute: »Engelchen«, hatte sie zu Meredith gesagt, »manches kann man nicht mehr zurückholen, sosehr man es sich auch wünscht.«
Jahre später wusste Meredith, dass sie sich glücklich schätzen konnte, fünfunddreißig geworden zu sein und ihre Großmutter noch immer bei sich zu haben. Schließlich hatte sie den viel zu frühen Tod ihrer Mutter erlebt und wusste aus erster Hand, wie sehr die Trauer um einen geliebten Menschen an einem nagen konnte.
»Du darfst nicht sterben«, stellte Meredith ganz ruhig fest. Sie drückte die Hand ihrer Großmutter. »Du darfst erst sterben, wenn ich es sage.«
Sie zuckte zusammen, als Ruby ihren Händedruck prompt erwiderte. Sie sah die offenen Augen ihrer Großmutter – und das Licht des Erkennens darin. »Meredith«, sagte Ruby mit schwacher, dünner Stimme, »wer hat denn was von Sterben gesagt?«
Nachdem Eli sich verabschiedet hatte und Ethan ins Bett gegangen war, verkroch Ross sich in seinem Zimmer. Shelby klopfte an die Tür, um ihm etwas zu essen zu bringen, aber er wollte nichts. Eine Stunde später klopfte sie erneut, um ein wenig mit ihm zu plaudern, doch er kam in Unterwäsche an die Tür und sagte, er wolle allein sein.
Sie tat es nur äußerst ungern, aber als sie kein Geräusch mehr aus seinem Zimmer hörte, schlich sie hinein, vergewisserte sich, dass ihr Bruder nur schlief, und versteckte seinen Rasierer.
Sie schlief unruhig und erwachte um neun Uhr morgens mit rasenden Kopfschmerzen. Jemand hatte das Radio zu laut gestellt.
Shelby stürmte zuerst in Ethans Zimmer, überzeugt, dass ihr Sohn der Übeltäter war. Doch er schlief tief und fest, zusammengerollt unter der Bettdecke. Shelby ging weiter zum Zimmer ihres Bruders und klopfte an die Tür. »Ross«, rief sie, »stell das Ding leiser!«
Doch die Musik plärrte weiter. Sie drückte die Tür auf, die nur angelehnt war. Der Lärm kam von einem Radiowecker.
Das Bett war gemacht, die Kommode leer geräumt, und Ross’ Reisetasche fehlte.
Auf dem Kopfkissen lag ein Zettel.
Shel , las sie, verzeih mir, dass ich einfach so verschwinde. Aber wenn ich je etwas richtig machen würde, wäre ich schließlich nicht der Bruder, den du kennst.
Ein Schrei ballte sich in ihr zusammen. Das war ein Abschiedsbrief.
Ross saß in seinem Wagen, blickte auf die schnurgerade Reihe Ahornbäume, lauschte den Vögeln und dachte, dass es keinen passenderen Ort als diesen geben könne, um alles zu einem Ende zu bringen. Er holte tief Luft, wissend, dass das, was er jetzt vorhatte, nicht nur sein Leben, sondern das vieler Menschen verändern würde. Aber er hatte keine andere Wahl.
Er war stundenlang herumgefahren, bis er eine Entscheidung getroffen und sich alles Notwendige besorgt hatte. Er könnte sagen, dass er es für Lia tat, aber das wäre nicht die Wahrheit. Ross tat es für sich selbst, um zu beweisen, dass es – endlich – etwas gab, das ihm gelang.
Er griff auf den Beifahrersitz, nahm den Zettel, auf den Ruby Webers Adresse gekritzelt war, und stieg aus dem Wagen.
Auf dem Briefkasten stand WEBER/OLIVER, und Ross fragte sich, ob diese Ruby Weber wohl mit jemandem zusammenlebte. Er ging über den gepflasterten Weg zur Haustür und klingelte.
»Es ist niemand da.«
Ross drehte sich um und sah eine Frau im Nachbargarten ihren Rasen sprengen. »Wissen Sie vielleicht, wann sie wiederkommen?«, fragte er. »Ich hab meinen Besuch nicht angekündigt …«
»Gehören Sie zur
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