Zeit der Gespenster
Atem an. »Tapferkeit.« Dann warteten sie und hofften, dass ihr Mut sie genauso fest aneinanderbinden würde wie Blut.
Az wurde vom Gesang der Vögel wach. Einen Moment lang blieb er auf seiner Pritsche liegen und versuchte, das Klagen des Schneefinks, das Trillern des Ziegenmelkers und die kehlige Altstimme des Seetauchers herauszuhören. Es war Wochen her, dass er ein solches Konzert gehört hatte. Das letzte Mal an dem Morgen, als er den anderen Abenaki von dem Friedhof erzählt hatte und dann mit ihnen auf das Pike-Grundstück gezogen war, um friedlich zu protestieren.
Er setzte sich langsam auf, spürte das Knarren und Knacken jedes einzelnen Wirbels. Er schwang die Füße über den Pritschenrand und stellte sie auf die festgetretene Erde des Zeltbodens.
Sie war warm, wie sich das im August gehörte. Nicht gefroren, wie bisher.
Az öffnete das Zelt und trat nach draußen. Die Welt schien wieder im Lot zu sein. Az pflückte eine Blüte von der Geißblattranke, die neben dem Zelt wuchs, und sah den Nektartropfen darin. Er saugte ihn auf und schmeckte Zucker statt Tränen.
Az blieb ganz ruhig stehen, und er spürte nicht mehr diesen pochenden Druck hinten im Kopf, wie einen Hammer. Er schloss die Augen und wusste sofort, wo der echte Norden lag.
Er machte Kaffee, wusch sich die Hände und das Gesicht und kleidete sich sorgfältig an. Er machte an diesem Morgen alles genauso wie in der ganzen Zeit, in der Comtosook verwunschen gewesen war. Az hatte gewusst, dass irgendwann alles wieder zur alten Ordnung zurückkehren würde.
Wäre er ein Zauberer gewesen, hätte Ross seiner Schwester Stärke hinterlassen. Keine Muskelkraft, sondern Durchhaltevermögen, denn nur damit kam man durchs Leben. Er musste es ja wissen, denn genau daran fehlte es bei ihm. Und so ging er nun die spärlichen Habseligkeiten in seiner Reisetasche durch. Sein weiches Shirt sollte Shelby bekommen, weil es nach ihm roch, denn er wusste, dass sie für alles dankbar wäre, womit sie die Erinnerung an ihn bewahren konnte. Seine Uhr sollte Ethan haben, anstatt der Zeit, die Ross ihm so gern geschenkt hätte. Die Pennys von 1932 würde er mitnehmen, um damit eine Spur durch die Ewigkeit zu legen, sodass Lia ihn finden konnte, nur für alle Fälle.
Was für ein Mann kann fünfunddreißig Jahre auf dieser Erde verbringen und am Ende nur so viel sein Eigen nennen, wie in eine schlichte Reisetasche passt?, fragte Ross sich. Und er dachte: Einer, der von vornherein nicht lange bleiben wollte.
Nach der Begegnung mit Lias Geist hatte er Meredith nach Hause gebracht. Er hatte gehört, wie sie Ruby anrief, sie um fünf Uhr morgens weckte, um ihr noch immer ganz verdattert zu erzählen, was sie gesehen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde in ein paar Tagen zurück nach Maryland fahren, doch vorher müsse sie sich hier noch um ein paar Dinge kümmern. Ross wusste nicht, ob Meredith ihm jetzt glaubte, was er ihr über Geister erzählt hatte, und es war ihm eigentlich auch egal. Ihm war Lia wichtig, und sie würde nicht zurückkehren. Er wusste das genauso, wie er wusste, dass jeder Atemzug nach Teer schmeckte, dass von nun an jeder Tag schmerzen würde wie ein Messerstich. Er war müde, so gottverdammt müde, und er wollte nur noch eines, schlafen.
Ross ging weiter den Inhalt der Tasche durch. Ein Rasierer, der seinem Vater gehört hatte, der war für Shelby. Sein EMF-Messgerät – natürlich für Ethan. Er zog das alte Geisterfoto heraus, das er mit Curtis an einem See gemacht hatte, und lächelte. Vielleicht würde er es Meredith schenken.
Er würde keinen Abschiedsbrief hinterlassen, so viel war klar. Systematisch zerriss er jedes Stück Papier auf dem Schreibtisch in kleine Schnipsel und warf sie wie Konfetti in den Mülleimer.
Dann fiel sein Blick auf Lucy Oliver, die in der Tür stand. »Hallo«, sagte er. Sie machte Ross irgendwie nervös. Ihre Augen war fast silbrig, zu hell für das Gesicht, und sie benahm sich, als würde sie ihn schon seit Monaten und nicht erst seit ein paar Tagen kennen. Heute Abend trug sie eine abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift MADAME PRESIDENT. Am Handgelenk hatte sie ein Pflaster. »Bist du beim Skateboardfahren hingefallen?«, fragte Ross freundlich.
»Nein«, antwortete Lucy, einfach Nein, mehr nicht. »Ich soll dir sagen, das Frühstück ist fertig.«
Ross wollte antworten – irgendwas in der Art wie Alles klar oder Ich komme gleich , aber stattdessen sagte er etwas, das für sie beide
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