Zeit der Gespenster
noch mehr Gestrüpp und Dickicht beiseite, suche. Wo hat er sie versteckt, wo kann sie sein?
Ich habe einen Schrei gehört, ich weiß es genau. Einmal war im Klifa Club ein Vortrag, von einem afrikanischen Dschungelzoologen, der gekommen war, um Spencer kennenzulernen. Der Zoologe sagte, dass Mütter in der Natur ihren Nachwuchs an den Lauten erkennen. Der Fötus hört eine Stimme im Mutterleib, und wenn das Baby zur Welt kommt, ist es in der Lage, seine Mutter überall herauszuhören.
Meine Hände bluten. Ich habe unter jedem Stein nachgeschaut, hinter jedem Baum. Dann höre ich sie wieder, wie sie mich leise ruft.
Diesmal konzentrieren sich alle meine Sinne, und auf einmal stehe ich, drehe mich um und gehe zum Eishaus. Ich stoße die Tür auf, schlurfe durch das Sägemehl. Und sehe sie.
Ihre Wimpern sind so lang wie der Nagel meines kleinen Fingers. Ihre Wangen sind milchig blau.
Lily. Lily Delacour Pike.
Selbst nachdem ich sie wieder in die Kiste gelegt habe, spüre ich noch ihr regloses Gewicht in meinen Armen. Irgendwas wird immer fehlen.
Er wird mir niemals glauben, er wird es niemals verstehen. Der einzige Weg, ihm zu zeigen, was er getan hat, ist der, ihm das Gleiche anzutun. Ihm das zu nehmen, was er auf der Welt am meisten liebt.
Einer von den Eisblöcken ist dünner als die anderen. Ich kann ihn anheben und nach draußen ziehen. Ich lege mir zuerst das Seil um den Hals und mache einen Knoten. Dann stelle ich mich auf den Eisblock und befestige das andere Ende des Seils am Balken. Warte auf mich , denke ich und springe meinem Baby hinterher.
Der Schmerz ist größer, als ich dachte, als das Gewicht meines Lebens von der Schwerkraft nach unten gezogen wird. Meine Lungen sind kurz vor dem Zerreißen, die Welt wird allmählich schwarz.
Aber plötzlich schreit sie. Und schreit. Durch das Fenster vom Eishaus, während ich an dem Seil hänge, sehe ich, wie sie mit ihren winzigen Fäusten rudert. Sie ist zu mir zurückgekommen, doch ich bin bereits fort.
Lily , schreie ich im Kopf, und ich versuche, das Seil zu packen, es vom Balken loszureißen. Aber ich habe zu gute Arbeit geleistet. Lily. Ich trete mit den Füßen nach den Stützpfosten, nach allem. Ich kratze, komme aber nur bis zur Brust, höher schaffen es meine Arme einfach nicht.
Oh Gott, ich kann sie nicht zweimal verlieren.
Sie wird meine Stimme hören, obwohl ich nicht laut rufen kann. Sie wird über eine Wüste hinweg zu mir finden, sie wird im tiefsten Meer zu mir schwimmen.
Ich gebe meinem Baby das Versprechen, das mein Vater mir gegeben hat, bevor er mich überhaupt kennenlernen konnte: Ich werde dich finden.
Als sie vor seinen Augen wieder verschwand, merkte Ross, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.
Lias Geist war noch einmal zurückgekehrt, um etwas zu suchen.
Aber sie hatte nicht nach dem Baby gesucht und auch nicht nach Ross. Erst als sich die Vision aufgelöst hatte, wusste er, warum sie wiedergekommen war: Auf der anderen Seite der Lichtung stand Meredith Oliver, das Gesicht starr vor Entsetzen und Fassungslosigkeit, denn auch sie hatte alles gesehen und gehört, was Lia zu sagen hatte.
ZWÖLF
Meredith saß lange schweigend da, während die Nacht immer engere Kreise um sie zog. Ihr Inneres fühlte sich flüssig an, und Meredith wusste, dass sie in nächster Zeit nicht in der Lage sein würde, sich zu bewegen, zu denken.
Geisterhaft.
Konnte einen der Wahnsinn so schnell befallen wie die Grippe? Ihr Verstand war nicht in der Lage, das Gesehene zu verarbeiten. Es war, als hätte man ihr gesagt, dass die Sonne nicht mehr aufgehen würde.
Aber sie war nicht Zeugin eines billigen Taschenspielertricks geworden, war nicht dem Geschwafel eines Verrückten aufgesessen. Mit eigenen Augen hatte sie einen Geist gesehen. Eine Frau, die genauso schnell wieder verschwunden war, wie sie gekommen war. Eine Frau, die genauso aussah wie Meredith.
Sie musste daran denken, wie oft sie Lucy gegenüber beteuert hatte, dass es keine Geister gab. Nun erschien ihr alles fragwürdig, woran sie je geglaubt hatte, denn wenn sie sich in dem Punkt geirrt hatte, was war dann noch alles ein einziger Irrtum? Es gab nur eines, dessen sie sich sicher sein konnte: Die Welt, in der sie heute Morgen erwacht war, war eine völlig andere gewesen als die, in der sie sich jetzt befand.
Sie merkte, dass sie sich vorbeugte und den Boden berührte, unsicher, ob auch der vielleicht nicht so fest war, wie sie glaubte. Sie fröstelte erneut und spürte,
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