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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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überraschend war. »Hat Lia mit dir über mich gesprochen?«
    Lucy nickte langsam. »Manchmal.«
    »Was hat sie gesagt?«
    Doch statt zu antworten, blickte Lucy sich im Zimmer um, betrachtete die Sachen, die er zusammengelegt hatte. »Was machst du?«
    »Ich bereite mich auf eine Reise vor«, erwiderte Ross.
    »Wohin?«
    Als er sie ansah, hatte er das Gefühl, als wüsste Lucy, dass es keine normale Reise war.
    »Aber jetzt noch nicht«, sagte Lucy, eine Bestätigung.
    Er legte den Kopf schief. Wie viel wusste sie? »Warum nicht?«
    »Weil es Frühstück gibt.« Lucy machte einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand mit dem Pflaster am Gelenk hin. »Komm«, sagte sie und wartete, bis Ross ihre Hand nahm und sich in ihre Obhut begab.

    Meredith hatte zwar keine große Trauerversammlung auf Spencer Pikes Beerdigung erwartet, aber dass sie mit Eli Rochert und seinem Bluthund allein am offenen Grab stand, während der Pfarrer rasch ein paar Worte sprach, das war schon ein wenig peinlich. Immerhin konnte sie froh sein, dass auf der anderen Seite des Zauns keine Trommeln geschlagen wurden, wo die Abenaki die Bauarbeiten auf dem Pike-Grundstück boykottierten. Shelby passte auf Lucy auf. Und Ross, tja, kein Mensch wusste, wo der steckte. Seit der Nacht, in der Lia erschienen war, hatte Meredith ihn nicht mehr gesehen, und sie war insgeheim froh darüber. Denn dann hätte sie die richtigen Worte finden müssen, und Es tut mir leid oder Ich bin hier kamen ihr längst nicht so passend vor wie Nein .
    Als der Geistliche sie dazu aufforderte, streute Meredith geistesabwesend eine Handvoll Erde über Pikes Sarg.
    Der Pfarrer sprach Meredith sein Beileid aus und ging dann gemessenen Schrittes zu seinem Wagen. Elis Hand berührte sie an der Schulter. »Möchten Sie mit mir zurückfahren?«
    Meredith schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich bleibe noch ein bisschen.«
    »Okay«, sagte Eli. Er entfernte sich mit dem Hund, drehte sich dann aber noch einmal um. »Rufen Sie mich auf dem Handy an, wenn Sie fertig sind, okay?«
    Meredith dankte ihm und sah seinem Pick-up hinterher. Sie fragte sich, ob Shelby wohl wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass ein Mann wie er genau im richtigen Moment in ihr Leben getreten war. Meredith betrachtete das frische Grab. Eine leichte Brise bewegte den Saum des schwarzen Kleides, das sie sich ausgeliehen hatte.
    »Adieu«, sagte sie leise, weil sie das Gefühl hatte, irgendwer sollte es sagen.
    »Auf Nimmerwiedersehen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    Az Thompson stand nur wenige Schritte entfernt in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schmaler Krawatte. »Sie sind der Letzte, den ich hier erwartet hätte«, sagte Meredith.
    »Ich bin nicht seinetwegen gekommen.« Az blickte auf das Grab. »Das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich froh bin, jemanden überlebt zu haben.« Er sah Meredith an. »Gehen wir ein Stück spazieren?«
    Sie zog ihre hochhackigen Schuhe aus und lief auf Strümpfen neben Az her. Er stapfte einen Hügel hinauf, marschierte über ein paar Gräber hinweg. An manchen Stellen spürte sie ein Kitzeln unter den Fußsohlen. »Keine gute Wahl, um mal in Ruhe nachzudenken«, sagte er stirnrunzelnd.
    »Wo würden Sie denn hingehen?«
    »An einen Wasserfall«, sagte Az, ohne zu überlegen. »Oder ich würde mich auf den Rücken legen und die Sterne betrachten.« Er sah sie an und streckte sich dann lang auf dem Boden aus. »So.«
    Sie zögerte ganz kurz, weil das Kleid nicht ihr gehörte. Dann setzte sie sich neben Az und blickte zum Himmel hinauf. »Was sehen Sie?«, fragte sie, ein Spiel, das sie oft mit Lucy spielte.
    »Wolken«, antwortete Az trocken.
    Meredith legte die Arme um die Knie. In ihrer Armbeuge war ein kleiner blauer Fleck von der Blutabnahme vor ein paar Tagen. Az hatte auch einen. »Darf ich Sie mal was fragen?«
    »Klar.«
    »Es ist nämlich … na ja, ich weiß nicht, wie ich Sie nennen soll. Mr. Thompson oder Az oder John.«
    »Ich glaube, ich fände es schön, wenn mich eine schlanke junge Frau N’mahom nennen würde.«
    »Was bedeutet das?«
    »Mein Großvater.« Er sah Meredith in die Augen. »Dann glaubst du es jetzt?«
    Sie nickte. »Aber es nützt ja nichts.«
    »Warum sagst du das?«
    Tränen traten ihr in die Augen. Sie war selbst überrascht und redete sich ein, dass es an dem Tag lag, der Hitze, am fehlenden Schlaf. »Es ist schon so viel passiert«, sagte sie leise. »So viele Menschen sind verletzt

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