Zeit der Gespenster
worden.« Sie dachte an Menschen wie Az, wie Lia, wie die gesichtslosen Abenaki in dieser Stadt, doch immer wieder tauchte Ross vor ihrem geistigen Auge auf. »Es sollte doch eigentlich gar nicht um mich gehen.«
»Die meisten Menschen sind zu sehr damit beschäftigt, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken. Warum ich, warum jetzt. In Wahrheit widerfährt einem manches gar nicht aus einem bestimmten Grund. Manchmal geht es nur darum, für jemand anderen im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein.«
»Und das ist alles?«
»Das ist nicht wenig.« Er sah sie an und lächelte. »Fahrt ihr heute wieder nach Hause?«
Meredith hatte eigentlich vorgehabt, noch am selben Nachmittag zurück nach Baltimore zu fliegen. Aber sie hatte ihre Heimreise auf morgen verschoben. Die Beerdigung von Spencer Pike sollte nicht ihre letzte Erinnerung an Comtosook sein. »Bald«, wich sie aus. »Schreibst du mir?«
»Ich bin kein großer Freund des geschriebenen Wortes. Pike und seine Freunde haben vieles aufgeschrieben, was niemals zu Papier gebracht werden sollte. Und die Alnôbak ziehen die mündliche Überlieferung der geschriebenen vor.«
»Und ein großes Kapitel wird ausgelassen«, murmelte Meredith.
»Dann liegt es an dir, es zu erzählen.«
Als sie merkte, dass es ihm ernst war, schüttelte sie den Kopf. »Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte.«
»Egal. Fang einfach irgendwo an.«
»Für Lucy, meinst du?«
»Für jeden«, sagte Az, »der bereit ist zuzuhören.«
Sie fuhr sich durchs Haar. »Übrigens … heute Nachmittag wird das Testament verlesen. Eli hat dafür gesorgt, dass ein Richter mir den Besitz überschreibt, weil ich die Rechtsnachfolgerin meiner Mutter bin … und sie ja die wahre Besitzerin war. Ich möchte gerne … ich möchte gerne, dass du das Grundstück bekommst.«
Er lachte. »Was soll ich denn mit so viel Land anfangen?«
»Ich dachte, du würdest es vielleicht mit anderen teilen wollen.« Meredith schlitzte einen Grashalm mit dem Daumennagel auf. »Vorausgesetzt natürlich, dass Lucy und ich ein Dach über dem Kopf haben, wenn wir dich besuchen kommen. Würdest du die Einzelheiten für mich regeln?«
»Wende dich an einen Mann namens Winks Champigny. Er steht im Telefonbuch. Er wird wissen, was zu tun ist. Ich würde dir ja helfen, aber ich werde wahrscheinlich auch eine Zeit lang nicht hier sein.«
»Das ist mal wieder typisch. Da lerne ich einen tollen Mann kennen, und schon muss ich erfahren, dass er mit dem nächsten Schiff ablegt.« Meredith lächelte ihn an. »Wirst du hier sein, wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme?«
»Verlass dich drauf«, sagte Az.
»Und es macht dir wirklich nichts aus?«, fragte Shelby zum zehnten Mal. Sie betrachtete Meredith’ Bild im Spiegel, während sie sich ein Medaillon um den Hals legte.
»Wieso denn? Die Kinder passen aufeinander auf. Ich werde mich auf die Couch setzen, Pralinen essen und mir Liebesfilme angucken.«
Es war etwas ganz Neues für Shelby – sie war zu einer normalen Zeit mit einem normalen Mann zum Abendessen verabredet. »Aber du musst doch bestimmt packen, weil ihr morgen zurückfliegt. Also bist du vom Dienst befreit, sobald Ross nach Hause kommt.«
Er war unterwegs, um Geräte zu holen, die er auf dem Pike-Grundstück gelassen hatte. Warum er das ausgerechnet im Dunkeln machen musste, abends um halb neun, war Meredith allerdings schleierhaft. »Weißt du, wohin Eli dich einladen will?«
»Irgendein schickes Restaurant in Burlington.« Sie ließ sich neben Meredith aufs Bett fallen. »Ich habe mich schon so oft mit ihm getroffen«, sagte sie leise. »Wieso bin ich jetzt bloß so aufgeregt?«
»Weil du verrückt nach ihm bist«, sagte Meredith. »Das kommt vom Dopamin, das in deinem Gehirn produziert wird.«
»Warum müsst ihr Wissenschaftler sogar die Liebe auf eine chemische Reaktion reduzieren?«
»Weil es für diejenigen unter uns, die nicht gerade mit Liebe verwöhnt werden, so leichter ist.«
Shelby drehte sich auf den Bauch. »Wer ist Lucys Vater?«
»Ein Mann, der es nicht hätte sein sollen«, entgegnete Meredith. »Und Ethans Vater?«
»Anscheinend der Bruder von Lucys Vater.« Shelby stützte das Kinn in die Hände. »Hast du ihn geliebt?«
»Sehr.«
»Genau wie ich.« Sie sah Meredith an. »Manchmal tu ich so, als wäre ich Eli nicht begegnet. Oder als wäre er nicht mein letzter Gedanke, bevor ich abends einschlafe. Das ist wie eine Art Aberglaube, verstehst du – wenn mir eine Beziehung nicht ganz
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