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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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wüsste, was gut für die Abenaki ist, wäre es ihm fast geglückt, uns auszurotten«, entgegnete Az. »Nein, Detective Rochert, ich glaube nicht, dass wir Ihren Rechtsweg einschlagen werden.«
    » Seinen Rechtsweg?«, schnaubte Winks, der jetzt stand und sich die Jeans abklopfte. »Eli, wer hat dir denn erzählt, dass deine Haut in der schicken, blauen Uniform nicht ganz so rot aussieht?«
    Eli packte Winks am Hemdkragen und stieß ihn seitlich gegen den Bulldozer. Sofort war Watson hinter ihm, fletschte die Zähne. Eli hörte das wohltuende Geräusch, als Winks’ Kopf auf Metall prallte, dann kam er wieder zur Vernunft. Er spürte, dass Az Thompson ihn beobachtete.
    Als er sich abwandte und seinen Hund zurückrief, erinnerte Eli sich, wie er mit den Verwandten seiner Mutter am Ufer des Sees geangelt hatte, einen Sommer lang. Die Kinder, braun und barfuß, spielten so oft Fangen, dass das hohe Gras auf einer großen Fläche platt getreten war. Eli war zehn, als ihm klar wurde, dass der See, den er als pitawbagw kannte – das Wasser, das dazwischen liegt –, auf der Landkarte Lake Champlain hieß.
    Mit einem Nicken gab er dem Fahrer des Bulldozers das Signal, dass er mit der Arbeit beginnen konnte, und drehte sich bewusst von den Indianern weg, entschlossen, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

    Eine Woche nach seiner Ankunft in Comtosook spazierte Ross am Ufer des Sees entlang, ohne auf die spitzen Kieselsteine unter seinen nackten Füßen zu achten. Das Wasser war kalt – zu kalt für August –, aber das störte ihn nicht. Etwas zu empfinden tat gut, selbst wenn es Unbehagen war.
    Lake Champlain war so groß, dass man das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte, obwohl dort in der Ferne die Adirondacks wie Soldaten aufragten. Aimee war auf der anderen Seite geboren worden, im Norden des Staates New York. An dem Tag, als die Welt unterging, waren sie unterwegs zu ihren Eltern.
    Als Ross noch in dem Buchladen in Manhattan gearbeitet hatte, fand dort einmal eine Autorenlesung zum Thema Bestattungsrituale statt. In Tibet zog ein Mönch dem Verstorbenen das Fleisch von den Knochen und schnitt alles in Stücke, damit Geier die Überreste verschlingen konnten. Auf Bali wurden die Toten bis zu ihrer feierlichen Verbrennung beerdigt, weil die Vorbereitung der spektakulären Zeremonien mitunter Jahre dauerte.
    Während der Lesung hatte Ross im Hintergrund gestanden und nur gestaunt. Irgendwann war Aimee hereingeplatzt und wäre fast an ihm vorbei ins Lager gestolpert, wenn er sie nicht festgehalten hätte.
    Sie warf sich in seine Arme und fing an zu schluchzen. Das Publikum reckte schon die Köpfe, und auch der Autor blickte irritiert auf.
    Ross zog Aimee an der Hand in die Abteilung für Gartenbücher. Mit klopfendem Herzen nahm er ihr Gesicht in beide Hände: Sie hatte Krebs, sie war schwanger, sie liebte ihn nicht mehr.
    »Martin ist tot«, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme heraus.
    Martin Birenbaum war bei einer Explosion in einer Chemiefabrik schwer verletzt worden. Er hatte an 85 Prozent seines Körpers Verbrennungen dritten Grades erlitten. Aimee, die als Assistenzärztin in der Notaufnahme arbeitete, war für ihn zuständig gewesen. Sie hatte alles getan, um seine Schmerzen weitestgehend zu lindern. Als er sie fragte, ob er sterben würde, hatte sie ihm in die Augen geblickt und Ja gesagt.
    Er war der erste Patient, den sie verlor, und deshalb hatte sich sein Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. »Ich bin bei ihm geblieben, weil ich wusste, dass ich ihm nicht helfen kann«, gestand Aimee. »Vielleicht wird es ja mit jedem Mal leichter. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte ich nie Medizin studieren sollen.« Plötzlich starrte sie ihn an. »Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein. So wie ich heute bei Martin war.«
    »Du stirbst nicht …«
    »Ross, bitte! Versprich es mir!«
    »Nein«, sagte er kategorisch. »Weil ich zuerst dran bin.«
    Sie schwieg einen Moment, lachte dann leise auf. »Hast du schon einen Termin?«
    » Guei , das heißt hungrige Geister«, sagte der Vortragende genau in diesem Moment, »sind die Seelen der Chinesen, die keines natürlichen Todes gestorben sind … deshalb suchen sie die Lebenden heim.«
    Ross warf einen Stein in den See, der über das Wasser hüpfte und unterging. Aimee war eingeäschert worden. Ihre Asche war irgendwo auf der anderen Seite des Sees, bei ihren Eltern. Er wusste nicht, was sie damit gemacht hatten; nach drei Jahren

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