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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hatte er nicht mehr auf ihre Anrufe und Briefe reagiert, weil es einfach zu schmerzlich war.
    Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein .
    Aber er war nicht bei ihr gewesen.

    Meredith Olivers Büro im Generra Institute hatte eine Postleitzahl von Washington, D.C., und wenn man aus dem Fenster sah, konnte man in der Ferne das Jefferson Memorial erahnen. Sie fand das ziemlich absurd, da die meisten Wissenschaftler im Institut nichts von der Idee hielten, dass alle Menschen gleich geschaffen sind – ihrer Meinung nach überlebten nur die Stärksten.
    Ihr gegenüber saßen Mr. und Mrs. De la Corria und hielten sich nervös an der Hand. »Gute Neuigkeiten«, sagte Meredith mit einem Lächeln. Sie war seit zehn Jahren in der genetischen Präimplantationsdiagnostik tätig und hatte festgestellt, dass für ein Paar nur eines noch nervenaufreibender war als die In-vitro-Befruchtung, nämlich das Warten auf die Ergebnisse der vorausgehenden Tests. »Es gibt drei lebensfähige Embryos.«
    Carlos De la Corria war Bluter. Aus Angst, die Krankheit an seine Kinder zu vererben, hatten er und seine Frau sich für eine künstliche Befruchtung entschieden, wobei die aus seinem Sperma und ihren Eiern entstandenen Embryos von Meredith genetisch untersucht wurden. In den Uterus der Mutter eingepflanzt wurde dann der Embryo, der nicht die Gene für Hämophilie, die Bluterkrankheit, in sich trug.
    »Wie viele davon sind Jungs?«, fragte Carlos.
    »Zwei.« Meredith blickte ihm in die Augen. Die Gene für Hämophilie wurden über das X-Chromosom übertragen. Ein männliches Kind der De la Corrias konnte somit die Krankheit des Vaters nicht weitervererben.
    Carlos hob seine Frau aus dem Sessel und wirbelte sie durch Meredith’ kleines Büro. All die Moralapostel, die ständig vor den möglichen Folgen genetischer Modifikation warnten, müssten nur einmal einen solchen Augenblick erleben.
    Mrs. De la Corria sank atemlos wieder in ihren Sessel. »Das Mädchen?«, fragte sie leise.
    »Der dritte Embryo ist leider ein Träger«, erwiderte Meredith.
    Carlos drückte die Hand seiner Frau. »Na dann«, sagte er optimistisch, »bekommen wir eben zwei Jungs, Zwillinge.«
    Es gab noch immer genügend Hindernisse zu überwinden, aber Meredith hatte ihren Teil der Arbeit getan. Die Implantation würden Kollegen von ihr vornehmen. Meredith nahm den Dank der De la Corrias entgegen und schaute dann in ihren Terminkalender. Noch zwei Beratungsgespräche, und dann konnte sie den Nachmittag über im Labor arbeiten.
    Sie setzte ihre Lesebrille auf und zog den Stift aus dem Haar, den sie als behelfsmäßige Spange benutzte. Ihre honiggelben Locken fielen ihr wirr auf die Schultern, so chaotisch, als hätte Gott sich einen Scherz erlaubt, indem er der Ordnungsfanatikerin Meredith Oliver eine Haarpracht bescherte, die sich einfach nicht bändigen ließ. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, rieb ihre geröteten Augen. »Heute Abend«, so sagte sie laut zu sich selbst, »werde ich nicht arbeiten.«
    »Dr. Oliver?« Ihre Sekretärin kam herein. »Die Albertsons sind da«, sagte die Sekretärin.
    »Einen Moment noch.«
    Sobald die Tür sich schloss, griff Meredith zum Telefon und rief zu Hause an. Sie stellte sich ihre Tochter vor, wie sie am Küchentisch saß, die Zöpfe über den Rücken warf und Schönschreibübungen machte. Lucy meldete sich. »Hallo?«
    »Hey, Schätzchen.«
    »Mom! Wann kommst du nach Hause?«
    »Bald.«
    Kurzes Schweigen. Dann: »Bevor es dunkel wird?«
    Meredith schloss die Augen. »Ich bin zum Essen da«, versprach sie. »Sag das auch Granny. Und keine Kekse mehr, bis ich nach Hause komme.«
    Lucy stockte der Atem. »Woher weißt du, dass ich …«
    »Weil ich deine Mom bin. Ich hab dich lieb.« Meredith legte auf, schlang dann ihr Haar oben auf dem Kopf zusammen. Sie kramte in ihrer Schublade nach einem Gummiband, fand aber nur ein paar Büroklammern, die als Haarnadeln herhalten mussten. Ihr Blick fiel auf die von den De la Corrias unterschriebene Einwilligungserklärung zur Beseitigung des dritten, des weiblichen Embryos. Spontan schob Meredith das Formular in die unterste Schreibtischschublade. Sie würde es verlieren, vorübergehend. Nur für alle Fälle.
    Sie drückte den Knopf der Sprechanlage, und gleich darauf traten die Albertsons ein. Sie wirkten niedergeschlagen und müde, wie die meisten Paare, die zum ersten Mal in ihr Büro kamen. Meredith erhob sich. »Ich bin Dr. Oliver. Ich habe mir Ihren Fall angesehen.

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