Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
er einen Fluch aus.
    Er hatte die Sache an den Nagel gehängt.
    Er glaubte nicht an Geister, nicht mehr.
    Aber was, wenn sich dieses Mal doch irgendwas materialisierte? Falls Ethan recht hatte – falls im Steinbruch jemand ermordet worden war –, bestand die Chance, dass sich hier ein ruheloser Geist herumtrieb. Einer, der Unerledigtes zurückgelassen hatte – oder einfach einen geliebten Menschen nicht verlassen wollte.
    Ross vertraute seinem Instinkt und richtete die Kamera auf eine Stelle, die seinen Blick immer wieder anzog, obwohl er nicht wusste, ob dort tatsächlich ein Mord geschehen war. Er legte eine Kassette ein, lehnte sich zurück und wartete.
    Plötzlich blendete ihn ein greller Lichtstrahl. »Ich kann das erklären«, setzte er an.
    Doch dann versagte ihm die Stimme, denn vor ihm stand ein greisenhafter Mann in einer alten Nachtwächteruniform; ein Mann, in dessen Augen so viel Weltklugheit lag, dass Ross sicher war, einem Geist gegenüberzustehen.

    »Wer sind Sie?«, flüsterte der Mann und blickte Az fragend an. Er glotzte, als hätte er noch nie einen amerikanischen Ureinwohner gesehen, und das verärgerte Az.
    »Sie haben widerrechtlich Privatgelände betreten«, sagte Az.
    »War das früher Ihr Land?«
    Az hatte auf einmal Mitleid mit dem Mann. »Hör mal, du packst jetzt dein Zeug hier ein und verschwindest, und ich sag keinem, dass ich dich gesehen habe.«
    Der Mann nickte, und dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorn und versuchte, ihn zu berühren. Verblüfft wich Az zurück und hob seinen Gummiknüppel.
    »Bitte! Ich … ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
    Himmelherrgott . Wenn das so weiterging, würde Az noch das Ende des Spiels verpassen.
    »Wohnen Sie hier?«
    »Nein, und ich habe auch kein Tipi, falls du das meinst.« Az packte ihn am Arm. »Und jetzt stell das Ding da ab, sonst …«
    »Sie können mich anfassen …?«
    »Ich kann dir auch eine Tracht Prügel verpassen«, sagte Az. »Die Red Sox spielen gegen die Yankees, also mach schnell.«
    Der Eindringling erlosch förmlich. Az hatte das schon öfter beobachtet, am Sterbebett von Freunden, wenn das innere Licht plötzlich ausging, das einen Menschen zu dem machte, der er war. »Die Red Sox«, murmelte der Mann. »Dann sind Sie kein Geist.«
    »Ich mag ja alt sein, aber den Löffel hab ich noch nicht abgegeben.«
    »Ich dachte, Sie wären …« Er schüttelte den Kopf, streckte ihm dann die Hand hin. »Ich bin Ross Wakeman.«
    »Sie sind verrückt, mehr nicht.«
    »Das wohl auch.« Ross strich sich durchs Haar. »Ich erforsche das Übersinnliche. Jedenfalls hab ich das, bis vor Kurzem.«
    Az zuckte die Achseln. »Schon mal was gefunden?«
    Ross merkte auf. »Gibt’s denn hier was zu finden?«
    »Hab noch nie was gesehen. Jedenfalls hier nicht.«
    »Aber anderswo schon?«
    Az ließ die Frage unbeantwortet. »Sie können hier nicht bleiben. Privatgelände.«
    Ross fing an, seine Ausrüstung einzupacken, wobei er sich reichlich Zeit ließ. »Ich hab gehört, hier ist vor Jahren ein Mord geschehen.«
    »Das sagen die Leute.«
    »Wissen Sie irgendwas darüber?«
    Az blickte in die Grube vom Steinbruch. »Das war vor meiner Zeit hier als Wachmann.«
    »Alles klar.« Ross schulterte die Tasche mit der Kamera. »Entschuldigen Sie … wegen der Verwechslung.«
    »Schon gut.« Az begleitete den jungen Mann nach draußen. Als Ross schon an seinem Wagen war, legte Az die Hände um die gusseisernen Stangen des Eingangstors. »Mr. Wakeman«, rief er. »Die Geister, die Sie suchen – Sie sind schon ganz nah dran.«
    Er ging zurück in sein Wachhäuschen und ließ Ross mit der Frage allein, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war.

    Im Laufe der folgenden Wochen lernten die Einwohner von Comtosook, an das Unerwartete zu glauben. Mütter erwachten nachts, die Stimme tränenerstickt, sodass sie nicht einmal mehr nach ihren Kindern rufen konnten. Geschäftsleute, die zufällig ihr Spiegelbild in einer Glasscheibe sahen, erkannten ihre eigenen Gesichter nicht wieder. Liebespärchen, die an einem einsamen Platz im Auto leidenschaftliche Schwüre tauschten, merkten, dass ihre Worte wie Luftblasen herauskamen und sogleich wieder platzten.
    Shelby Wakeman stellte fest, dass es an allen nach Norden gehenden Fenstern ihres Hauses von Marienkäfern nur so wimmelte. Rod van Vleet konnte höchstens eine Viertelmeile in seinem Firmenwagen fahren, dann drang aus den Lüftungsschlitzen ein so penetranter Beerengeruch, dass er

Weitere Kostenlose Bücher