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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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dicke Gesteinsbrocken regnete. Lucy weinte jetzt lauter, und er hörte Ethan und Meredith seinen Namen rufen. Er stand auf und blickte sich um.
    Der Sims, auf dem Ethan und Lucy gestanden hatten, war noch da. Aber zwischen dem Sims und dem Felsen, auf dem Ross sich befand, klaffte jetzt ein Abgrund. Quer durch den gesamten Steinbruch verlief ein anderthalb Meter breiter und fast fünf Meter tiefer Graben, der die Kinder auf einer steinernen Insel gefangen hielt.
    Ross schaute nach rechts und links, dann hinunter in diese neue Grube. Die Granitwände fielen senkrecht ab. Um zu den Kindern zu gelangen, müsste er an dem Spalt entlang bis zum Südende des Steinbruchs, dort zur Sicherheitsabsperrung hoch und dann auf der anderen Seite des Grabens wieder herunter. »He, ihr beiden«, rief Ross den Kindern zu. »Ihr müsst springen.«

    Meredith hatte alles beobachtet – Ross’ Weg durch den bebenden Steinbuch und dass er schon fast bei Lucy und Ethan war, als der Berg unter seinen Füßen nachgab. Als er aus ihrem Gesichtsfeld verschwand, wollte sie sich drehen, um weiter nach ihm Ausschau halten zu können. Dabei jagte ihr ein so heftiger Schmerz durch das Bein, dass sie fast das Bewusstsein verloren hätte. Noch während sie dagegen ankämpfte, sah sie plötzlich, wie sich der Spalt auftat, der den Boden des Steinbruchs in zwei Hälften teilte, mit den Kindern auf der anderen Seite.
    Ross würde es niemals bis zum Rand des Steinbruchs und von dort bis zu den Kindern schaffen, nicht vor der nächsten Explosion. Er hatte recht – die einzige Rettung für Lucy und Ethan war ein Sprung über den Spalt. Ethan würde tun, was sein Onkel ihm sagte. Aber Lucy – nein, Lucy würde nicht springen. Dazu war sie einfach nicht mutig genug.
    Meredith traten Tränen in die Augen. »Lucy«, schrie sie, »spring!«
    Sie würden hier sterben, sie und Lucy, unter Schutt begraben. Sie flehte innerlich um Mut und Furchtlosigkeit für ihre Tochter. Und als sie ihren ganzen Willen darauf konzentrierte, sah sie, wie Lucy Anlauf nahm und loslief und hoch in die Luft sprang.

    Sie landete mit Schwung in Ross’ Armen und riss sie beide zu Boden. Und jetzt, da sie in Sicherheit war, konnte sie ihn einfach nicht mehr loslassen. Erleichtert, verwundert – er hatte nicht damit gerechnet, dass sie springen würde, noch dazu vor Ethan –, küsste Ross sie auf die Stirn. »Ich hab dich«, flüsterte er in ihr Haar, während sie an seiner Schulter schluchzte. »Alles in Ordnung.« Er schob die Kleine von sich weg. »Jetzt muss ich Ethan auffangen, okay?«
    »Okay«, schniefte Lucy. Noch immer zitternd, schlang sie die Arme um die Knie und zog den Kopf ein.
    Ross stand wieder auf. »Ethan, ich lass dich nicht fallen.« Er sah, wie sein Neffe nickte, loslief und sprang.

    Ethan war Superman, und er flog, und nichts – nichts – konnte ihn davon abhalten, die Welt zu retten oder wenigstens sich selbst. Er hatte die Augen geschlossen, um nicht die zackigen Felsen auf dem Grund des Grabens sehen zu müssen oder wie weit es bis zu Onkel Ross war. Er streckte die Fingerspitzen so weit nach vorn wie möglich und sang lautlos: Ich bin ein Vogel, ich bin ein Flugzeug, ich bin schon da .
    Als seine Finger gegen etwas Festes stießen, riss er die Augen auf und sah, wie er in die offenen Arme seines Onkels flog. Er klammerte sich fest, und erst dann kamen die Tränen, so unvermittelt und haltlos, dass er nicht einmal mehr sprechen konnte. Seine Füße glitten an Ross’ Beinen hinunter und fanden festen Boden.
    Der im selben Augenblick unter ihnen wegbrach.

    Ross spürte, wie sie abrutschten, mit einer Gerölllawine in den tiefen Spalt hineinglitten, und er drehte seinen Körper im Fallen so, dass er die Wucht des Sturzes abfangen konnte. Ethan landete schmerzhaft auf ihm, und Steine bohrten sich ihm in Beine und Rücken. »Steh auf«, sagte Ross und schob seinen Neffen auf die Beine. »Geht’s?«
    Ethan fand keine Worte, aber er nickte. Ross schaute nach oben. »Lucy!«, schrie er. »Wo bist du?«
    Ein kleines, weißes Gesicht tauchte an der Felskante über ihnen auf. Tränen zogen Streifen durch den Staub auf ihren Wangen. Ross betrachtete die steilen Wände – es gab einige Stellen, wo er Halt finden konnte, um wieder nach oben zu klettern, aber niemals mit Ethan auf dem Rücken. Und Lucy war nicht stark genug, um sie hochzuziehen.
    »Ethan, du musst mir helfen«, sagte Ross. »Du steigst auf meine Schultern und kletterst dann allein nach oben.

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