Zeit der Gespenster
wissen, dass du hier rausgekommen bist.«
Er zwang sich zu einem schiefen Grinsen. »Wie oft muss ich dir denn noch sagen, dass ich unsterblich bin?«
Sie griff nach seiner Hand, und Ross ging neben Meredith’ Kopf auf die Knie. Im selben Moment sahen sie beide den roten Stab, etwa einen Meter von ihnen entfernt.
Ross sprang auf, packte die Dynamitstange und rannte los. Er lief über gezacktes Granitgestein, über geborstene Felsen, tief in den Steinbruch hinein. Nichts zählte mehr, außer möglichst weit von Meredith wegzukommen, ehe die Computer das Dynamit zündeten.
Die Ladung zerbarst in seiner Hand. In dem Sekundenbruchteil, bevor er sie losließ, bevor eine Explosion heißer als tausend Sonnen die Stelle ausradierte, auf der er stand, erlebte Ross einen Augenblick, in dem alles kristallklar war. Er hatte Meredith gerettet, er hatte alle gerettet. Vielleicht reichte das ja sogar als Entschädigung für den Rest seines Lebens.
Die Wucht der Detonation riss ihn von den Beinen, und sein Kopf schlug mit voller Wucht auf einen gezackten Stein auf. Und als er gerade dachte, dass er endlich etwas gefunden hatte, wofür es sich zu leben lohnte, musste Ross erkennen, dass er doch nicht unbesiegbar war.
Als Eli und Shelby eintrafen, waren die ersten Rettungswagen bereits wieder abgefahren. Im Steinbruch wimmelte es von Polizisten, die aus Nachbargemeinden angefordert worden waren, um das ganze Gelände abzusperren. Ein anderer Detective sprach gerade mit den Besitzern des Angel-Steinbruchs, die herbeigeeilt waren, natürlich in Begleitung ihres Anwalts. Keiner wusste, wo Az Thompson, der Nachtwächter, war. Seine Abwesenheit machte es leicht, ihn zum Sündenbock abzustempeln.
Eli hastete zu den Sanitätern hinüber. »Die Kinder. Wo sind die Kinder?«
»Denen ist nichts passiert. Ein paar Schürfwunden und Prellungen. Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus.«
Er spürte, wie Shelby neben ihm in sich zusammensank, und er legte stützend den Arm um sie.
»Können wir hinfahren?«, fragte Shelby. »Sofort? Zum Krankenhaus?«
Doch bevor er antworten konnte, erregte etwas an der Absperrung seine Aufmerksamkeit. Drei Rettungshelfer hoben behutsam eine Trage über den Rand. Auf ihr festgeschnallt lag, ramponiert und blutverschmiert, Meredith.
»Um Gottes willen«, hauchte Shelby, während sie mit ansah, wie die ohnmächtige Meredith in einen Rettungswagen geschoben wurde. Und erst jetzt registrierte sie Ross’ Auto. Shelby hielt einen Sanitäter an der Jacke fest. »Wo ist mein Bruder. Wo ist mein Bruder?« Der Mann antwortete nicht, aber sie hielt ihn weiter fest. »Ross Wakeman«, sagte sie. »Er muss hier irgendwo sein.«
Stille breitete sich aus. Niemand wollte ihr antworten, und das war Antwort genug. »Nein«, schrie Shelby und sank auf die Knie. »Nein!«
Eli legte die Arme um sie. »Er ist im Krankenhaus«, sagte er mit Nachdruck. Dann sah er einen Sanitäter an. »Hab ich recht?«
»Ja, stimmt, er ist im Krankenhaus.«
»Siehst du?« Eli half Shelby hoch und führte sie zu seinem Wagen. »Wir fahren jetzt zu Ethan. Und zu Ross.«
»Okay.« Shelby nickte unter Tränen. »Okay.«
Eli machte die Tür zu. Als er auf die Fahrerseite ging, berührte der Sanitäter ihn an der Schulter. »Äh, Detective. Was den Mann betrifft … «
»Er ist im Krankenhaus«, wiederholte Eli.
»Ja, aber das war nur noch eine reine Formsache«, sagte der Sanitäter. »Er war schon tot, als wir ihn fanden.«
Ross fuhr, und Aimee saß auf dem Beifahrersitz. »Dänemark«, sagte er.
Sie überlegte einen Moment. »Kirgisistan.«
Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden, als hätte er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, obwohl er wusste, dass das unmöglich der Fall sein konnte … sie waren nie länger als zweiundsiebzig Stunden voneinander getrennt, und das auch nur, wenn Aimee Nachtdienst im Krankenhaus hatte. Immer wieder schielte Ross hinüber, um die Kontur ihrer Wangenpartie zu betrachten, ihre Augen, die Stelle, wo der lange Zopf auf ihren Rücken fiel. »New York«, murmelte er.
Aimee verdrehte die Augen. »Ach, komm schon, Ross, schon wieder ein K?«
»Du hast fünfzehn Jahre Ausbildung hinter dir, da müsste so ein bisschen Geografie doch ein Kinderspiel sein.«
»Na schön, Kalamazoo.«
Er lächelte und blickte auf die Straße. Sie fuhren schnell, und draußen goss es in Strömen, trotzdem hätte er schwören können, dass er die Frau erkannt hatte, die da am Straßenrand entlangging – es war
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