Zeit der Gespenster
Sand und Steinsplittern in die Luft, dass Meredith vorübergehend kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Ross kam angerannt. »Ich kann Az nirgends entdecken«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich die Sprengung stoppen soll.«
Meredith krallte die Finger in den Maschendrahtzaun. »Lucy!«, schrie sie. »Lucy!«
Die einzige Antwort war eine erneute Serie von Explosionen. Das Getöse des berstenden Gesteins war noch lauter als der Krach der Detonationen.
Jemand anderes hätte es vielleicht nicht gehört – das kurze Keuchen, auf das ein Schluchzen folgte –, doch Meredith entging das Geräusch nicht. »Lucy«, flüsterte sie und strengte die Augen an, um irgendeinen Beweis dafür zu entdecken, dass ihre Ohren sie nicht getäuscht hatten. Sie fand ihn, auf einem Steinsims kauernd – ein schmaler Farbfleck, der in dem Staubschleier aufblitzte, ein rostroter Streifen von Lucys T-Shirt, der nicht von grauem Puder bedeckt war. Meredith sprang an dem Zaun hoch und kletterte los.
»Meredith!«
Sie hörte Ross’ Stimme, der ihr über den Zaun folgte. Es war durchaus denkbar, dass die Sprengungen jeden Augenblick weitergingen, aber Meredith war das egal. Sie hatte Ethan und Lucy tief unten im Steinbruch erspäht, und stieg jetzt eine Leiter hinab, deren Sprossen an der Steinwand befestigt waren.
Unten angekommen, zögerte sie kurz, eingeschüchtert durch steinerne Obelisken, die sechsmal größer waren als sie, doch dann erkletterte sie den ersten und sah sich nach dem kürzesten Weg zu ihrer Tochter um. An dem rauen Fels kratzte sie sich die Hände blutig. Sie rutschte ab, knickte mit einem Fuß um und schrie auf. Im selben Augenblick entdeckte Lucy sie. »Mommy!«, hörte sie und Weinen, und sie quälte sich fünfzehn Meter weiter.
Ein Signalhorn ertönte, dreimal hintereinander. »Deckung«, rief Meredith, so laut sie konnte, winkte ihnen zu, sich in die Höhle zu verkriechen, die sie gefunden hatten. Sie legte sich die Arme über den Kopf, als könnte sie sich dadurch schützen, und fast im selben Moment explodierten die Sprengladungen auf der anderen Seite des Steinbruchs. Die Detonation war zwar weit entfernt, doch die Erschütterung ließ den Boden unter Merediths Füßen erbeben. Sie spürte, wie der Stein unter ihr nachgab, ihre blutnassen Finger suchten vergeblich nach Halt, und dann fiel sie und landete auf dem verletzten Fuß. Das Bein zerknickte unter dem Gewicht der Granitplatte und wurde eingeklemmt.
Ross sah die Explosionen wie in Zeitlupe. Er hörte das Tosen des Gerölls, das ihm mit seinem rasenden Puls in den Ohren hallte. Er konnte die Zeit nicht beschleunigen, er konnte seine Arme und Beine nicht dazu bringen, sich schneller zu bewegen. Die ganze Welt um ihn herum wurde zersprengt. Doch selbst in diesem Chaos übertönte Ethans Hilfeschrei alles Krachen.
Ross blendete jeden Gedanken daran aus, dass es praktisch unmöglich war, heil auf die andere Seite des Steinbruchs zu gelangen. Er wusste nur, dass er nicht noch einmal einen Menschen sterben lassen würde, den er liebte. Dass er der Einzige war, der Ethan retten konnte. Dass er keine Wahl hatte.
Dass die Geschichte sich nicht wiederholen würde.
Als er Meredith erreichte, waren seine Schienbeine vom Granit zerschnitten. Blut rann ihm von der Schläfe, wo ein Splitter ihn getroffen hatte. Meredith lag eingeklemmt unter einer Felsplatte, so groß wie ein erwachsener Mann. »Die Kinder«, keuchte sie, und er nickte ihr zu.
Er rammte einen Schuh in den Spalt zwischen zwei Steinen, streckte die Arme aus und zog sich weiter. Wieder und wieder. Manchmal bewegten sich Felsen unter ihm, oder seine Hände rutschten ab. Doch Ross gab nicht auf. Er hielt die Augen auf Ethan und Lucy gerichtet, die auf dem Sims hinter einer Staubwand standen und auf ihn warteten.
Die beiden aneinandergelehnten Felsen, unter denen Lucy und Ethan Schutz gesucht hatten, brachen plötzlich zusammen. Lucy sprang kreischend an den äußeren Rand des Simses. »Schnell!«, rief sie. »Bitte!«
Nach tausend Jahren oder vielleicht auch nur nach einem Herzschlag erreichte Ross den Geröllhügel. Er suchte festen Halt und kletterte hoch. Eine Hand vor die andere. Ein Fuß vor den anderen. Als er den Kopf hob, konnte er die Spitzen von Ethans schwarzen Turnschuhen sehen.
Eine Detonation krachte hinter ihm, und dann stürzte Ross auch schon – zusammen mit der Wand, an der er hochklettern wollte. Instinktiv rollte er sich nach links und hob die Arme über den Kopf, während es
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