Zeit der Gespenster
Lucy!«, rief er. »Wenn Ethan nah genug ist, packst du seine Hand, okay?«
Es kam keine Antwort. Ross konnte Lucy auch nicht mehr sehen. Aber wenn sie warteten, ging vielleicht bald die nächste Sprengladung hoch, und dann würden sie hier nicht mehr herauskommen. »Los jetzt«, sagte er zu Ethan und ging in die Hocke, damit der Junge ihm auf die Schultern klettern konnte. »Wenn du oben ankommst, hilft Lucy dir bestimmt.«
Lucy zitterte so heftig, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie hatte gesehen, wie die Welt in sich zusammenfiel – der Morgen grau wurde, der feste Boden verschwand, ihre Mutter gefangen. Ross und Ethan saßen unten in dem Graben fest, und sie war hier oben, und nichts war so, wie es sein sollte. Lucy wollte einfach die Augen zumachen.
»Lucy!« Das war Ross’ Stimme. Er wollte, dass sie Ethan nach oben half. Aber dazu müsste sie wieder ganz nah an den Abgrund, wo der Rand doch eben eingebrochen war. Und Lucy konnte sich einfach nicht dazu überwinden.
»He!« Ethans Hand tauchte über der Kante auf. »He, Lucy, wo bist du? Onkel Ross, sie kommt nicht!«
»Lucy!«
Lucy hielt sich die Ohren zu. Sie würden alle weggehen, das alles hier würde weggehen, einfach weggehen. Und dann drang ein Gedanke zu ihr durch, zart wie ein Sonnenstrahl: Auch wenn man Angst hatte, konnte man tun, was getan werden musste.
Sie kroch auf den Rand der Spalte zu, schluckte trocken, spähte über die Kante und sah Ethan, nur ein kleines Stück unterhalb von ihr, der wie eine Spinne an der Wand klebte.
Lucy legte sich auf den Bauch und presste die Wange auf den Boden. Dann streckte sie die rechte Hand aus. Sie spürte seine Finger, und dann umschloss er ihre Hand, hielt sich an ihr fest.
Weil sie sein Gewicht nicht hochziehen konnte, machte sie sich selbst zum Anker. Er zog sich an ihrem Arm hoch, Stückchen für Stückchen, packte ihre Schulter und hievte sich dann über den Rand.
Sie starrten einander keuchend an, atmeten die Atemluft des anderen. »Lucy«, sagte Ethan, und seine Stimme klang so heiser, dass man sich schon fast den Mann vorstellen konnte, der er vielleicht niemals werden würde.
Sie brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. »Wieso hast du denn so lange gebraucht?«, flüsterte sie.
Ross trug Lucy auf dem Rücken und dirigierte Ethan Schritt für Schritt durch die Gesteinstrümmer zur Leiter auf der anderen Seite. Mehrmals musste er die Richtung wechseln, weil eine weitere ferne Explosion die felsige Landschaft vor ihnen veränderte. Nicht ein einziges Mal kam ihm der Gedanke, dass sie es nicht schaffen würden.
Als sie die rostige Leiter erreichten, stellte er Lucy auf die untere Sprosse und sagte, sie solle nach oben klettern. Ethan folgte ihr. »Verständige die Polizei«, sagte Ross zu ihm. »Und wenn du dafür ins Büro einbrechen musst.«
Ethan nickte. »Kommst du nicht mit?«
Ross sah über die Schulter. »Noch nicht«, sagte er und drückte Ethans Wade. »Los jetzt.«
Dann ging er den Weg zurück, den er gekommen war, suchte verzweifelt nach der großen Steinplatte, unter der Meredith eingeklemmt war. Aber inzwischen lagen überall viele andere Granitplatten im Steinbruch, und er wusste nicht mehr genau, wo er Meredith gesehen hatte. Er suchte sich einen erhöhten Punkt, und plötzlich entdeckte er Meredith’ Arm.
»Meredith!« rief er, und sie kam zu sich.
»Lucy?«
»Alles in Ordnung. Sie ist raus.«
Sie konnte es nicht sehen, aber ihr Bein war grotesk verdreht. Die große Platte, die ihren Oberschenkel einklemmte, war doppelt so breit wie Ross und so dick wie sein Arm. Er konnte sie unmöglich anheben. »Hol Hilfe, Ross«, sagte Meredith unter Tränen.
» Ich bin hier, um dir zu helfen.« Er sah sich vergeblich nach irgendetwas um, womit er die Platte bewegen könnte. »Ich versuch jetzt, das Ding anzuheben.«
Sie zitterte, eine Mischung aus Schmerz und Todesangst. »Mach, dass du hier rauskommst.«
Ross schob sich unter die Platte und versuchte sie hochzustemmen, aber sie rührte sich nicht. In der Ferne kündigte ein gellendes Signal eine weitere Serie von Sprengungen an. Ross hielt hektisch Ausschau nach Dynamitstangen oder Sprengkapseln, dann fiel sein Blick auf Meredith, und plötzlich stand die Wahrheit deutlich zwischen ihnen: Er konnte ihr nicht helfen.
Er beugte sich vor und strich ihr die Haare aus der Stirn. »Schhh«, flüsterte er, und irgendwo links von ihnen ging eine Sprengladung los.
»Ross, geh. Bitte.« Sie weinte jetzt heftiger. »Ich muss
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