Zeit der Gespenster
reichte Ethan nur eines von seinen eigenen Sweatshirts, dessen Ärmel ihm bis über die Hände fielen. Dann blinzelte er in den Himmel. »Ich hab mir gedacht, ein Junge, der mit der Sonne noch eine Rechnung offen hat, würde versuchen, ihr möglichst nah zu kommen. Und das hier ist die höchste Stelle in der Stadt.« Er sah Ethan an. »Deine Mutter ist verrückt vor Angst.«
»Wo ist sie?«
»Zu Hause. Für den Fall, dass du dort zuerst auftauchst.« Er öffnete die Beifahrertür. »Können wir diese Unterhaltung im Haus weiterführen?«
Nach einem Moment nickte Ethan. Er stieg ins Auto, nahm seine Baseballmütze ab und rieb sich den Kopf. »Stimmt das, dass du versucht hast, dich umzubringen?«
»Ja.«
Ethan spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte. Sein Onkel war einer der wenigen Männer, zu denen Ethan überhaupt Kontakt hatte, und er war ganz sicher der Coolste von allen. Er hatte total irre Sachen gemacht, Fallschirmspringen und Eisklettern. Ethan wollte so sein wie er, falls er das Glück hatte, je so alt zu werden. Aber er konnte einfach nicht begreifen, wieso der Mann, den er auf der Welt am meisten bewunderte, nicht bloß die Gefahr suchte, sondern darin umkommen wollte. »Warum?«
»Um auf die andere Seite zu kommen«, erklärte sein Onkel.
»Gott sei Dank«, schrie Shelby. Sie rannte zum Auto und zerrte Ethan hinaus. Shelby hielt ihren Sohn fest, als wäre er eine Verlängerung ihres eigenen Körpers.
Ross lehnte sich gegen die Motorhaube und dankte Gott, dass er Ethan am richtigen Ort gesucht hatte. Er wollte zur Haustür gehen und merkte erst jetzt, dass ein Fremder neben seiner Schwester auf der Veranda stand. »Das ist Rod van Vleet«, sagte sie in einem Tonfall, der Ross verriet, dass ihr Streit noch längst nicht beendet war. »Er wollte dich sprechen.«
Ross warf seiner Schwester den düstersten Blick zu, den er unter den gegebenen Umständen zustande brachte. Der Mann war kleiner als Ross, und sein Kopf mit dem schütteren Haar hatte die unvorteilhafte Form einer Erdnuss. Er trug einen eleganten Anzug, gestärktes Hemd, Krawatte. »Mr. Wakeman«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. »Wie ich höre, jagen Sie Geister.«
DREI
Endlich einmal gefiel es ihm, dass alle ihn anstarrten.
Ethan trug die Videokamera, obwohl sie schwer war, aber er würde seinem Onkel gegenüber ganz bestimmt nicht jammern. Außerdem schleppte Ross alles andere – von den Schlafsäcken bis zum Proviant (eine Überwachung, so hatte sein Onkel gemeint, war nun mal eine Überwachung, auch wenn die Leute, die man erwischen wollte, schon tot waren). Sie gingen an den Trommlern und dem Bulldozer und den Bauarbeitern vorbei, und Ethan merkte, dass so ziemlich jeder bei dem, was er gerade tat, innehielt. Ein alter Indianer starrte Ethan besonders eindringlich an, aber nicht, weil er seltsam aussah – sondern weil ihn der Mann und der Junge interessierten, die da so selbstverständlich über das Grundstück marschierten.
Ethan blieb einen Moment stehen und beobachtete einen Studenten beim Sandsieben. Der junge Mann trug nur eine kurze Hose, und seine Schultern und der Rücken waren nussbraun. Ethan schaute an sich selbst hinunter, auf die langen Ärmel und die dicke Hose. Er sog die Luft durch das Gitter der Schutzmaske ein, die er tragen musste, wenn er bei Tageslicht das Haus verließ.
»He, komm schon«, rief Ross über die Schulter, und Ethan hastete ihm nach.
Der Bauunternehmer, Mr. van Vleet, kam auf sie zu. Er trug schicke Lederschuhe und rutschte immer wieder auf dem Eis aus, das die Erde wie Zuckerguss überzog. »Mr. Wakeman«, sagte er leise zur Begrüßung. »Wir verstehen uns doch hoffentlich, dass Sie die Sache … mit äußerster Diskretion behandeln.«
»Und wir verstehen uns hoffentlich auch, dass ich meine Arbeit mache, wie ich es für richtig halte«, entgegnete Ross und kehrte dem Mann den Rücken zu. Er stieg die Stufen zu dem alten Haus hinauf. Eine brach in der Mitte durch, als er den Fuß daraufstellte.
Das Haus mit den schwarzen Fensterläden, die schief in den Angeln hingen, sah aus, als hätte es geweint. Ethan trat zurück und reckte den Hals, um bis ganz nach oben zu schauen. Es war irgendwann einmal weiß gewesen. Die meisten Fenster waren längst zerbrochen. Efeu überwucherte den Türrahmen. In der Diele rieselte Putz von der Decke, und die Bodenbretter waren dick mit weißem Staub bedeckt. Die Wände waren schmierig und voller Kritzeleien: SARI BLÄST DIR EINEN. Unter der
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