Zeit der Gespenster
mit dem Bildschirm, und er ließ das kurze Band laufen, das er im Steinbruch aufgenommen hatte. Eine Sequenz sah er sich genauer an. Aber nein, das Flackern in einer Ecke war bloß eine Spiegelung – nichts Paranormales.
Er schaltete den Fernseher ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Reine Zeitverschwendung.«
»War es so schlimm?« Shelby kam herein.
»Mit Ethan gab’s keine Probleme.«
»Ich meinte deine Verabredung. Verrätst du mir jetzt, wer die Glückliche ist, oder ist das ein Staatsgeheimnis?«
»Kennst du nicht.«
»Woher willst du das wissen?« Shelby setzte sich. »Was machst du mit der Videokamera?«
Ross wechselte rasch das Thema. »Wie war die Arbeit?«
»Ich glaube, ich hab dir heute einen Job verschafft.«
»Danke, aber Bibliotheksarbeit ist nichts für mich.«
Shelby setzte sich und zog die Beine hoch. »Heute ist ein gewisser Rod van Vleet in die Bücherei gekommen. Er arbeitet für die Baufirma, die drüben am Otter Creek Pass ein Stück Land gekauft hat …«
»Wo?«
»Ist egal. Wichtig ist aber, dass er mit den Nerven am Ende ist, weil er denkt, da spukt’s.« Shelby lächelte triumphierend. »Jetzt rate mal, wo du ins Spiel kommst.«
Seine Kiefermuskulatur verkrampfte sich. »Geht’s dir ums Geld? Wenn du willst, dass ich Miete zahle …«
»Ross, bitte nicht. Ich hab dich erwähnt, weil ich dachte, du würdest dich freuen. Seit du hier bist, bläst du Trübsal.«
Ross stand auf, riss das Verbindungskabel aus dem Fernseher und packte die Videokamera ein. »Mir war nicht klar, dass du solche Erwartungen an mich stellst«, sagte er verbittert.
Shelbys Hände umschlossen Ross’ Handgelenke. Mit dem Daumen schob sie die Ärmel seines Pullovers hoch, glitt über seine vernarbte Haut. »Ich wollte dich fragen, ob du zum Abendessen Suppe haben willst, Suppe, Ross, und du lagst da in deinem Blut.«
»Du hättest mich einfach liegen lassen sollen«, sagte Ross und löste sich sanft von ihr.
»Ach, Scheiße.« Tränen glitzerten in Shelbys Augen. »Wenn du gleich ins Bad gehst, frage ich mich, ob du Pillen schluckst. Wenn du mit dem Wagen unterwegs bist, frage ich mich, ob du gegen einen Baum fährst. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du nicht der Einzige bist, der einen geliebten Menschen verloren hat? Aimee ist gestorben. Menschen sterben. Du lebst , und du musst anfangen, dich auch so zu verhalten.«
Sein Blick war eisig. »Ob du das in ein paar Jahren auch so siehst, wenn es um Ethan geht?«
Ein leises Geräusch drang von der Tür, aber als sie sich umwandten, war der Junge, der jedes Wort mitgehört hatte, bereits weggelaufen.
Er trug ein Sweatshirt und eine lange Hose und natürlich seine Baseballmütze, aber Gesicht und Hände waren unbedeckt. Als Ethan den Steinbruch erreichte – die höchste Stelle der Stadt, mit schroffen Felsen, die in den Himmel ragten –, waren seine Finger angeschwollen und rot und pochten bei jedem Herzschlag.
Vielleicht würde ihn unterwegs ein Laster überfahren. Vielleicht würde er verbrennen, einfach in Flammen aufgehen. Wenn er jetzt starb, was machte das schon aus?
Was er über Comtosook wusste, hatte er aus Landkarten und aus dem Internet erfahren. Natürlich war er auch früher schon mal draußen gewesen – aber bei Tageslicht sah alles anders aus. Er konnte die Augen nicht von den Straßen losreißen, die voller Autos waren, von den Bürgersteigen voller Menschen. Er wusste ja nicht, dass der Ort normalerweise noch viel belebter war – für Ethan wirkte diese sonnige Welt so geschäftig, dass es ihm den Atem verschlug.
Ethan wusste, dass er sterben würde. Psychologen und Ärzte und Sozialarbeiter hatten mit ihm geredet und versucht, ihm dabei zu helfen, die Prognose für einen XP-Patienten zu akzeptieren. Vielleicht würde er fünfzig, höchstwahrscheinlich jedoch nicht älter als fünfzehn. Das hing davon ab, wie stark seine Zellen bereits vor der Diagnose geschädigt waren.
Die Felsen des Steinbruchs ragten vor ihm auf. Er wusste nicht, was er hier eigentlich tun sollte. Vielleicht sein Sweatshirt ausziehen, bis die Schmerzen unerträglich wurden und er das Bewusstsein verlor.
Er lief die Einfahrt hinauf und blieb abrupt stehen. Sein Onkel Ross stand da gegen die Motorhaube seines verbeulten Autos gelehnt, die Arme verschränkt. »Wie hast du mich gefunden?«
»Gefunden? Ich war zuerst hier.« Ross sah, dass Ethans Hände und sein Gesicht von der Sonne verbrannt waren, sagte aber nichts. Er
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