Zeit der Gespenster
sich an der Bettkante entlang, bis er seine silberne Wraparound-Sonnenbrille wiederfand. Er zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Dann hob er das Rollo an und kauerte sich auf die Fensterbank. Nach wenigen Minuten zeichneten sich rote Flecken auf seiner kreideweißen Haut ab, aber Ethan war das egal. Er würde die Narben in Kauf nehmen, wenn er nur so beweisen konnte, dass er tatsächlich Teil dieser Welt gewesen war.
Die Stadtbücherei von Comtosook zog nicht viele Besucher an. Kleine Räume reihten sich aneinander wie Perlen und hätten sich viel besser für einen Gasthof auf dem Lande geeignet denn als Aufbewahrungsort für Literatur. Die Regale standen kreuz und quer, manche mitten im Raum. Die Bibliothekarin – und das war vormittags Shelby – musste nicht nur verschiedene Suchmaschinen beherrschen, sondern auch den Bestand der Bücherei genau kennen. Die meiste Zeit jedoch konnte Shelby tun und lassen, was sie wollte, und ihre große Leidenschaft waren ausgefallene Wörter.
Manchmal saß sie mit aufgeschlagenem Wörterbuch da und studierte es mit der gleichen atemlosen Faszination, wie andere einen Thriller lasen. Hibernal : winterlich. Pilose : übermäßiger Haarwuchs. Polygyn : in Vielweiberei lebend.
Nach vier Jahren College und abgeschlossenem Studium durchschaute sie sehr wohl, dass sie die Sprache als Pufferzone zwischen sich und dem Rest der Welt benutzte. Sie war sich auch darüber im Klaren, dass sie, selbst wenn sie jeden Eintrag im Wörterbuch auswendig lernen würde, noch immer keine Erklärung dafür hätte, was aus ihrem Leben geworden war.
Sie machte sich Sorgen um Ethan. Sie machte sich Sorgen um Ross. Sie war so damit beschäftigt, den Alltag zu meistern, dass sie nie darüber nachdachte, wieso sich eigentlich niemand Sorgen um sie machte.
Die Bücherei war menschenleer, denn die Menschen wagten sich in einer Stadt, die sich vor ihren Augen veränderte, kaum noch vor die Tür. Für Shelby, die tagtäglich mit dem Abnormen lebte, waren die jüngsten Ereignisse kein Grund zur Unruhe.
Als die Tür sich quietschend öffnete, blickte Shelby auf. Ein Fremder kam herein. Er trug einen teuren Anzug, der aus keinem der Geschäfte im Umkreis von fünfzig Meilen stammen konnte. Aber irgendetwas an ihm stimmte nicht. Seine Haut war fast so weiß wie Ethans. Er sah von dem schiefen Boden über die schrägen Wände mit den bis zur Decke reichenden Enzyklopädien und fragte: »Können Sie mir helfen?«
»Dafür bin ich da.«
Sein Blick kreiste durch den Raum wie ein Vogel und blieb dann auf Shelby haften. »Kann man denn hier irgendwas finden?«
Rhabdomantie , dachte Shelby. Das Wahrsagen mit der Wünschelrute. »Was suchen Sie denn?«
»Indianerfriedhöfe. Was mit ihnen passiert ist, in der Vergangenheit, wenn darauf gebaut wurde. Präzedenzfälle. So was in der Art.«
»Sie sind bestimmt von der Baufirma«, sagte Shelby. Sie führte ihn in einen entlegenen Winkel der Bibliothek, wo ein Mikrofiche-Lesegerät hinter einem Regal mit Kochbüchern stand. »Vor etwa einem Jahr hat es in Swanton einen ähnlichen Streitfall gegeben. Vielleicht schauen Sie zuerst mal hier nach.«
»Sie wissen nicht zufällig, wie die Sache ausgegangen ist?«
»Der Staat hat das Land gekauft.«
»Oh, prima. Toll.« Er ließ sich in den Sessel sinken. »Lag auf dem Grundstück in Swanton auch ein Fluch?«
»Wie bitte?«
Einen Moment lang schien er völlig am Ende. »Was machen diese Indianer … beschwören die ihre ganzen toten Ahnen, wenn sie sie brauchen, nur damit wir wieder verschwinden?«
Shelby kaute auf einem Fingernagel.
»Herrje, wir wollen doch bloß ein kleines Einkaufszentrum bauen. Ich hab die Unterschrift des Besitzers, alles ganz legal. Ich hab bereits fünfzigtausend Dollar hingeblättert. Ich hab mir nichts zuschulden kommen lassen, und was krieg ich dafür? Die Temperatur sackt auf einmal ohne ersichtlichen Grund in den Keller, ich höre mitten in der Nacht kreischende Stimmen, die halbe Belegschaft kündigt mir. Und … heute Morgen bin ich geschubst worden, und dabei war gar niemand hinter mir!« Er sah Shelby direkt an. »Ich bin nicht verrückt.«
»Natürlich nicht«, murmelte sie.
Der Mann strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich weiß nicht, wieso ich hergekommen bin. Sie können mir nicht helfen.«
»Nein, kann ich nicht«, sagte Shelby. »Aber ich denke, ich kenne jemanden, der das kann.«
Ross saß in Shelbys Wohnzimmer vor dem Fernseher. Kabel verbanden die Videokamera
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