Zeit der Gespenster
Angst allein im Dunkeln versteckte, dann hatte sie wahrscheinlich einen Asthmaanfall. »Wir haben sofort bei Ihnen zu Hause angerufen«, sagte die Betreuerin. »Ihre Mutter hat gesagt, dass sie nicht Auto fahren kann.«
»Meine Großmutter«, verbesserte Meredith sie automatisch. Ruby war mit ihren fast achtzig Jahren zwar geistig noch hellwach, fühlte sich aber hinter dem Steuer nicht mehr wohl. Sie hatte Meredith im Labor angerufen. Ein Notfall, hatte sie gesagt.
Sie erreichten die kleine Holzhütte am Waldrand. »Lucy?« Meredith rüttelte am Türgriff. »Lucy, du machst jetzt sofort die Tür auf!« Sie schlug zweimal mit der Faust gegen die Tür. Beim dritten Schlag schwang sie auf, und Meredith trat gebückt ein.
Die stickige Hitze sprang sie förmlich an. Lucy kauerte hinter einem Netz voller Fußbälle. Sie hielt eine lila Seidenschleppe an die Brust gepresst, Teil eines Kostüms für eine längst vergessene Musicalaufführung. Sie weinte.
»Hier«, sagte Meredith und reichte ihr das Albuterol, das Lucy gehorsam in den Mund steckte und inhalierte. Dann nahm Meredith ihre Tochter in den Arm. »Wieso heißt das Spiel eigentlich Völkerball?«, sinnierte sie, als gäbe es nichts Normaleres, als hier und jetzt diese Frage zu stellen.
Lucys Brust hob und senkte sich noch immer wie ein Blasebalg. »Es war nicht das Spiel«, gestand sie. »Ich hab was gesehen?«
»Was denn?«
»Da hing was. Im Baum. An einem Seil.«
»Eine Schaukel?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Eine Frau.«
Meredith zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Zeigst du mir, wo?«
Sie liefen nach draußen, vorbei an Lucys Betreuerin, vorbei an den kleinen Pavillons, in denen die Bastelstunden stattfanden, über eine schmale Brücke, die zu den Sportanlagen führte. Eine Gruppe von Kindern, allesamt älter als Lucy, spielte dort Völkerball.
»Wo?«, fragte Meredith. Lucy deutete nach links auf einen Baum. Meredith nahm die Hand ihrer Tochter und blickte nach oben. »Kein Seil«, sagte sie leise. »Nichts.«
»Es war aber da.« Lucys Stimme klang rau vor Hilflosigkeit. »Ehrlich.«
»Lucy. Ich glaube dir, dass du etwas gesehen hast. Es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung. Vielleicht hat dich die Sonne geblendet.«
»Vielleicht«, wiederholte Lucy leise.
»Vielleicht war es ein Ast, der sich im Wind bewegt hat.«
Lucy zuckte die Achseln.
Plötzlich streifte Meredith ihre Pumps ab und gab Lucy ihren Laborkittel. »Halt mal«, sagte sie und begann, den Baum hochzuklettern. Sie kam bis zu einem ausladenden Ast.
Mittlerweile schauten alle Kinder zu, und selbst Lucy musste lächeln. »Nichts«, stellte Meredith fest und stieg wieder hinunter.
Ihre Nylonstrümfe hatten Löcher, und ihre Frisur war ruiniert. Lucy nahm das Gesicht ihrer Mutter in beide Hände. »Vielleicht hat mich ja die Sonne geblendet«, flüsterte sie.
Meredith zog ihre Tochter fest an sich. »Tapferes Mädchen«, sagte sie und wusste genau, dass sie sich beide selbst nicht glaubten.
Von den Warburtons hatte Ross gelernt, dass die Geisterstunde zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens war. Um halb elf war Ross mit den Vorbereitungen im Schlafzimmer des verlassenen Hauses fertig.
»Wo bleiben denn die ganzen coolen Geräte?«, fragte Ethan enttäuscht. »Du weißt schon, die aus dem Fernsehen.« Er beäugte die Videokamera mit unverhohlener Skepsis.
»Curtis sagt immer, beim ersten Mal sollte man nicht zu viel technischen Kram aufbauen«, erklärte Ross. »Am Ende ist man dann zu sehr mit den Geräten beschäftigt. Außerdem stören Geister das Magnetfeld und lösen oft Kurzschlüsse aus.«
»Trotzdem«, quengelte Ethan. »Ohne vernünftige Ausrüstung sind wir doch lahme Enten.«
Ross lachte, doch dann sah er das bekümmerte Gesicht seines Neffen. »Hör mal. Wenn hier irgendwas ist, kommen wir mit den richtig coolen Geräten zurück, okay?«
Sie hatten die Kamera auf eine Zimmerwand ausgerichtet, die Schlafsäcke waren auf dem dreckigen Boden ausgerollt. Das einzige Licht im Raum kam von einer kleinen Taschenlampe, die einen hellen Kreis zwischen Ross und Ethan warf. Ross holte ein Kartenspiel heraus und fing an zu mischen. Ethan nahm es ihm aus der Hand. »Onkel Ross? Meinst du, der Geist hier ist irgendwie auf schreckliche Weise gestorben?«
»Ich weiß doch noch gar nicht, ob hier ein Geist ist.«
Der Junge fing an, die Karten zu verteilen. »Ich würde gern wissen, ob er wütend auf uns ist.«
Ross neigte den Kopf in den Lichtkegel der Taschenlampe.
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