Zeit der Gespenster
der überhaupt nichts war. Dann tauchte sie unter die Decke. »Ich soll ihr beim Suchen helfen.«
»Suchen? Wonach?«, fragte Meredith.
Aber Lucy antwortete nicht. Meredith spürte einen Schmerz in der Brust. »Granny«, sagte sie mit tonloser Stimme, »bleibst du bei ihr?«
Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie zurück in ihr Schlafzimmer. Sie griff zum Telefon und holte die Visitenkarte hervor, die sie in ihre Nachttischschublade gelegt hatte. Sie zögerte kurz, dann rief sie Dr. Calloway an. Sie kapitulierte.
Als Ross am Abend um elf Uhr auf dem Pike-Grundstück eintraf, wartete Lia schon. »Bin ich zu spät?«, fragte er beiläufig, als hätte er damit gerechnet, sie anzutreffen. Während er seine Geräte aufstellte, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Sie schien irgendwie verändert – Ross bemerkte eine zarte Entschlossenheit an ihr, die er nicht gefährden wollte, indem er sie auf die Umstände ihres letzten Abschieds ansprach. Also zeigte er ihr stattdessen die Stelle, an der er zwei Nächte zuvor die Erdhügel gesehen hatte. Er ließ sie sein neues EMF-Messgerät zur Erfassung elektromagnetischer Felder bestaunen, das frisch mit der Post eingetroffen war. Wenn sie mit ihm auf Geisterjagd gehen wollte, dann würde er sie lassen. Es war immerhin ein Anfang.
Sie fuhr sacht mit der Hand über die Videokamera auf dem Stativ. »Mein Vater hat auch eine Kamera«, sagte sie, »aber die ist größer. Wuchtiger.«
»Das hier ist eine Digitalkamera.« Ross spähte über die Lichtung. Schon jetzt empfing er starke Schwingungen von dort. »Wir sollten uns hinsetzen und abwarten, vielleicht haben wir Glück.«
»Ich darf … bleiben?«
»Ich dachte, deshalb wären Sie gekommen.«
Lia antwortete nicht, aber sie ließ sich neben ihm auf dem gefrorenen Boden nieder. Ihre Angst war wie ein Keil zwischen ihnen. Ross fragte sich, wovor sie sich fürchtete – vor einem Geist oder vor ihrem Mann. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nickte und blickte zu dem EMF-Messgerät hinüber, dessen Nadel reglos war. »Und dieser Kompass geht los, wenn ein Geist erscheint?«, erkundigte sie sich.
»Er geht los, wenn ein Geist sich materialisiert. Der Übergang von einem Zustand zum anderen wirkt sich nämlich auf ein elektromagnetisches Feld aus. Dann hören wir ein Knistern.«
Sie schwiegen, aber es gab viele Fragen, die keiner von beiden als Erster ansprechen wollte. Irgendwann wurde Ross der Abstand zwischen seiner und ihrer Schulter bewusst. Wenn er sich nur leicht bewegen würde, könnte er sie berühren. Verdammt. Er holte tief Luft.
Es war fast zehn Jahre her, dass Ross etwas Derartiges empfunden hatte – eine körperliche Nähe, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, ein leises Gebet um etwas, das die Lücke zwischen ihnen schloss. Er hatte so lange nach dem Geist einer Frau gesucht, dass es ihn aus der Bahn warf, jetzt von einer realen Frau direkt neben ihm so fasziniert zu sein. Aber Lia war verheiratet, und eigentlich wollte er ja nur Aimee zurück.
Und wenn das eigenartige Sehnen, das er in Lias Nähe empfand, gar nicht sein Bedürfnis war, sie zu retten, sondern die Möglichkeit, dass sie vielleicht ihn retten könnte? Und wenn er in Comtosook gar keinen Geist finden sollte, sondern … diese eine Frau?
Aimee ist tot. Lia ist hier …
Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf und brachte ihn derart durcheinander, dass es ihn unvermittelt in die entgegengesetzte Richtung drängte, hinaus aus dem gelben Lichtkegel und weg von Lia. »Ist was passiert?«, fragte sie atemlos.
Nein , dachte Ross, Gott sei Dank . Er stand auf und machte ein paar Schritte.
»Spüren Sie was?«
»Nein«, antwortete Ross. Ja .
Sie stand auf, trat in die Dunkelheit. »Ich aber«, murmelte sie. »Als würde alles … schärfer. Fester.«
Als sie an Ross vorbeikam, spürte er einen Lufthauch. Der helle Rand ihres Rocks strich über seine Hand, und unwillkürlich griff er danach, doch er glitt zwischen seinen Fingern hindurch wie Wind.
Das Herz war ihm zu groß in der Brust, und es schlug nicht mehr regelmäßig. Ross, der seine Liebe nicht hatte sterben lassen, als seine Geliebte starb, merkte plötzlich, dass ihn so etwas Kleines wie der Leberfleck am Knie einer Frau erregte.
Er sagte sich, dass er mit Aimee eine gemeinsame Welt gehabt hatte, dass sie ihn besser gekannt hatte als je ein Mensch in seinem Leben. Aber die Wahrheit war, dass Aimee ihn heute nicht wiedererkennen würde. Die Trauer hatte ihn verändert,
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