Zeit der Gespenster
Gesicht entfernt worden. Er fühlte sich klein und schwach.
Wieder zu Hause, in seinem Zimmer, stellte er sich vor den Spiegel. Die Blasen hatten sich noch nicht gebildet – das würde erst morgen passieren. Aber schon jetzt war sein Gesicht ein Globus mit wandernden, fleckigen Kontinenten an den Stellen, wo die Wucherungen entfernt worden waren.
Unwillkürlich hob er die Faust und rammte sie in den Spiegel. Blut lief ihm am Arm herunter, aber er hatte erreicht, was er wollte: Er musste sich jetzt nicht mehr selbst sehen.
»Ethan?« Die Stimme seiner Mutter. » Ethan! « Sie war jetzt hinter ihm, umwickelte seine Faust mit einem Laken, das sie vom Bett gerissen hatte. »Wie ist das passiert?«
»Es tut mir leid«, Ethan wippte vor und zurück. »Es tut mir leid.«
»Was hast du nur angestellt?«
Ethan riss seine Hand weg. »Wieso benutzt du dauernd so blöde Wörter, die kein Mensch versteht? Wieso sagt mir nie einer die Wahrheit?«
Seine Mutter starrte ihn an. »Was willst du hören, Ethan?«
Er schluchzte, und ihm lief die Nase. »Dass ich ein Monster bin.« Er hob die gespreizten Finger ans Gesicht, beschmierte Kinn und Wangen mit Blut. »Sieh mich doch an, Ma. Sieh mich doch nur an.«
Seine Mutter brachte ein Lächeln zustande. »Ethan, Schatz, du bist müde. Du müsstest längst im Bett sein.« Ihre Stimme nahm den üblichen beruhigenden Tonfall an. Sie senkte sich auf Ethans Schultern, und er musste dagegen ankämpfen, einfach nachzugeben. Er spürte, wie seine Mutter seine Hand untersuchte und ihn dann ins Bad führte, um ihn zu verarzten.
»Ich glaube, das muss nicht genäht werden«, sagte sie, als sie seine Hand verband. Dann brachte sie ihn zurück in sein Zimmer. Ethan stieg ins Bett und starrte den leeren Spiegelrahmen an der Wand an.
»Schlaf jetzt, danach geht’s dir wieder besser«, sagte seine Mutter, und Ethan wusste nicht, ob sie mit ihm oder sich selbst sprach. »Wenn du aufstehst, machen wir was Schönes zusammen – vielleicht holen wir das Teleskop raus und suchen die Venus … oder wir sehen uns alle Star-Wars -Filme hintereinander an … das wolltest du doch schon immer, nicht?« Während sie sprach, kauerte sie auf dem Boden und sammelte die Spiegelscherben ein. Er war nicht sicher, ob sie weinte.
Eli schreckte aus dem Schlaf und setzte sich auf, rang nach Luft. Das ganze Zimmer duftete so intensiv nach Äpfeln, als hätte er direkt neben einer Apfelpresse geschlafen. Er rieb sich die Augen, konnte aber das Bild nicht loswerden, das ihm vorschwebte: schon wieder diese Frau. Sie kauerte auf dem Boden und versuchte weinend, ein scheinbar unmögliches Puzzle zusammenzufügen.
Er kannte ihre Stimme, obwohl er sie nie hatte sprechen hören. Er wusste, dass sie unter dem linken Ohrläppchen eine Narbe hatte, dass ihr Mund nach Vanille und Traurigkeit schmeckte.
Seine Mutter hatte an die Macht der Träume geglaubt. »Wenn wir wach sind«, so hatte sie immer gesagt, »sehen wir, was wir sehen müssen. Wenn wir schlafen, sehen wir, was wirklich ist.«
Er hatte sich oft gefragt, ob seine Mutter je geträumt hatte, dass sie einen Weißen heiraten würde, dass sie irgendwann an Diabetes sterben würde. Und er fragte sich, ob sie gewusst hatte, dass ihr einziger Sohn sich lieber einen Arm abhacken würde, als den Indianerglauben anzunehmen, dass Träume mehr waren als wüst drauflos feuernde Neuronen.
Diese Frau, die ihm in der Dunkelheit erschien – ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie das Stück Seeglas, das Eli einmal am Strand von Rhode Island gefunden hatte.
Er zog sich die Decke bis zum Kinn und sank zurück aufs Kopfkissen.
Als der gellende Schrei erklang, stürzte Meredith in Lucys Zimmer. Nein, nein, nein , dachte sie. Es lief doch in letzter Zeit alles so schön normal.
Ihre Großmutter war bereits da, strich Lucy das feuchte Haar aus der Stirn und raunte ihr zu, dass alles in Ordnung sei. »Sie hört nicht auf«, sagte Granny Ruby alarmiert. »Es ist, als könnte sie mich nicht mal hören.«
Meredith legte beide Hände um das Gesicht ihrer Tochter und beugte sich dicht zu ihr. »Lucy. Hör zu. Es geht dir gut. Hier kann dir nichts passieren. Hast du verstanden?«
Lucys Blick wurde klarer, und schließlich verstummte sie. Dann begriff sie, wo sie war, und wich ans Kopfende des Bettes zurück, wo sie sich ganz klein machte. »Könnt ihr sie nicht sehen?«, flüsterte sie. »Sie ist genau da.«
Sie zeigte auf eine Stelle zwischen Meredith und Ruby, eine Stelle, an
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