Zeit der Gespenster
den Tonfall seiner Stimme, seine Bewegungen. Aimee hatte verstanden, was Ross glücklich gemacht hatte.
Lia schien zu verstehen, was ihn zerstört hatte.
Plötzlich erklang klar und deutlich der Schrei eines Babys. »Haben Sie das gehört?«, flüsterte Lia und griff nach Ross’ Hand.
Er hatte es gehört. Aber er merkte, dass Lia nicht mehr auf das Geräusch lauschte. Sie nahm die Taschenlampe und leuchtete damit auf die Narben an Ross’ Handgelenk. »Oh«, sagte Lia, und die Lampe fiel scheppernd zu Boden, tauchte sie beide in Finsternis.
Er konnte Lia zwar nicht sehen, aber er wusste, dass sie ihre eigenen alten Wunden betastete. »Warum haben Sie mir nichts gesagt?«
»Sie haben mich nicht gefragt.« Ross zündete sich eine Zigarette an, holte damit ihr Gesicht aus dem Dunkel.
»Wann?«
»Ist eine Weile her. Damals glaubte ich nicht, dass es für mich in dieser Welt noch irgendetwas gab, wofür es sich zu leben gelohnt hätte.« Er hielt ihrem Blick stand. »Ich glaube es noch immer nicht.«
»Ich bin heute Nacht nicht hergekommen, um einen Geist zu suchen«, gestand Lia. »Ich bin gekommen, weil ich dann nicht zu Hause sitze und darüber nachdenke, ob ich ein Messer oder Tabletten oder Gift nehmen soll.« Er zitterte, als sie die Lippen an sein Ohr legte. »Ross«, raunte sie, »sag mir, wie es auf der anderen Seite ist.«
Ross hatte sich schon einmal so gefühlt, als ob jede Zelle seines Körpers bersten könnte. Hinterher, als er erwachte, sagten ihm drei Ärzte, dass er von einem Blitz getroffen worden war. Er hob eine Hand an Lias Kinn. Wenn du mich so klar sehen kannst , dachte er, dann muss ich real sein .
Wenige Meter entfernt begann das EMF-Gerät zu knistern. Das statische Rauschen begann leise und wurde rasch so laut, dass es sogar das Tosen in Ross’ Kopf übertönte. Noch nie war er Zeuge einer derart heftigen Reaktion gewesen – irgendetwas Starkes kündigte sich an. Und es war absolut erklärlich: Der Geist nutzte die Energie, die zwischen Ross und Lia entstanden war, um sich zu materialisieren.
Ross lief zu dem EMF-Gerät und versuchte, die Anzeige abzulesen. »Die Taschenlampe«, rief er Lia zu, gerade als er mit dem Schuh gegen die Lampe stieß. Das Rauschen ließ nach. Einen überzeugenderen Beweis für einen Geist hatte er nie zuvor erlebt, doch in diesem Augenblick wäre es Ross egal gewesen, wenn der Geist direkt auf ihn zugekommen wäre. Er musste Lia finden, musste den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen.
Ross schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl im Kreis wandern, aber Lia war verschwunden.
Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand im Verlauf einer paranormalen Untersuchung davonlief. Doch Lias Angst hatte nichts mit dem Nahen der Geister zu tun. Es war die gleiche Angst, die Ross empfunden hatte und die ihn noch immer zittern ließ: die Einsicht, dass er zum zweiten Mal in seinem Leben jemanden brauchte, den er nicht haben konnte.
VIER
Die Einwohner von Comtosook stellten sich nach und nach auf eine Welt ein, die aus den Fugen geraten war. Alle hatten stets einen Schirm dabei, um sich gegen den Regen zu schützen, der rot wie Blut vom Himmel fiel und zu einer feinen roten Staubschicht trocknete. Porzellan zerbrach Punkt zwölf Uhr mittags, ganz gleich, wie sorgfältig es eingepackt worden war. Mütter weckten ihre Kinder, damit sie sich die Rosen ansehen konnten, die um Mitternacht erblühten. Hosennähte platzten ganz von selbst auf, und Wasser begann nicht zu kochen, und wenn es noch so lange erhitzt wurde.
Manche machten die globale Erwärmung für die Ereignisse verantwortlich, andere hielten es schlicht für persönliches Pech. Aber als Abe Huppinworth feststellte, dass in seinem Laden jeder einzelne Artikel in den Regalen auf den Kopf gestellt worden war, überlegte er laut, ob nicht vielleicht dieser indianische Geist vom Otter Creek Pass was damit zu tun haben könnte. Und die drei Kunden, die das mitbekommen hatten, erzählten es ihren Nachbarn, und noch ehe es Abend wurde, spekulierte ganz Comtosook, ob es nicht doch besser wäre, dem Stück Land seinen Frieden zu lassen.
Rod van Vleet war nicht gerade begeistert von dem, was Ross Wakeman ihm zu berichten hatte. Falls es tatsächlich einen Geist gab – so lächerlich das auch klang –, was sollte Rod dann machen? Das Haus war abgerissen, die Trümmer wurden bereits abtransportiert. Die Redhook-Gruppe würde bauen, egal wie viele Unterschriftensammlungen und Petitionen auf seinem
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