Zeit der Gespenster
lebende Beweis dafür, dass man mit der richtigen Mutter sehr gut ohne Vater auskommen konnte. Wenn sie Luxe schon nicht wieder zum Leben erwecken konnte, so hatte sie jetzt wenigstens die Möglichkeit, ihr zu zeigen, was sie von ihr gelernt hatte. Sie würde ihre Tochter behüten und beschützen, sie würde sie mit Liebe großziehen.
Als sie sich wieder angezogen hatte und aus der Klinik kam, schüttete einer der Demonstranten einen Eimer falsches Blut über ihr aus. Meredith packte den Mann am Kragen und schrie ihn an, dass sie es nicht hatte machen lassen. Dann brach sie in den Armen des Fremden in Tränen aus.
Sie gaben ihr Kekse zu essen und Kakao aus einer Thermosflasche. Sie boten ihr einen Platz auf einer Decke an. Der Mann, der sie begossen hatte, gab ihr sein trockenes Hemd. An diesem Nachmittag war Meredith ihre Heldin.
Jetzt, fast zehn Jahre später, betrachtete Meredith die Demonstranten im Rückspiegel. Sie wünschte, sie hätte den Mut, zurückzugehen und sie zu fragen, ob einer von ihnen schon mal eine Entscheidung hatte treffen müssen, die sein ganzes Leben veränderte. Sie wünschte, sie könnte sie mit in ihr Labor nehmen, wo so viele gesunde Embryos warteten. Sie wünschte, sie könnte ihnen erklären, dass es auch Leben gab, das gar kein Leben vor sich hatte.
Dann steuerte Meredith ihren Wagen vom Parkplatz und machte sich auf den Weg nach Hause, wo sie ihre Tochter auf der Couch vorfinden würde, wie betäubt und lethargisch von den Psychopharmaka.
Ross saß in der Notaufnahme und blickte in die Gesichter der Verletzten und Kranken, die durch die automatische Tür kamen. Jedes Mal, wenn es nicht Lia war, entspannte er sich ein bisschen. Er war nun schon zwei Tage hier, hatte herausgefunden, dass keine Lia Beaumont eingeliefert worden war. Seine größte Befürchtung war, dass sie sich etwas antun könnte – oder dass ihr Mann ihr etwas antun könnte –, bevor Ross Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen.
Er wollte ihr sagen, dass er sich nicht mehr genau an Aimees Augen erinnern konnte. Acht Jahre lang hatte Ross sie deutlich vor sich gesehen, die leichte Mandelform, das zimtfarbene Zentrum, die Wimpern, die auf ihre Wangen einen Schatten warfen, wenn sie schlief. Doch seit der Nacht, in der Lia die Lippen an sein Ohr gelegt hatte, konnte er sich Aimees Gesicht nicht mehr vorstellen, ohne dass es sich in Lias verwandelte.
Er zog sich dreimal am Tag um, und doch roch er immer noch Rosen.
Er wollte sie küssen.
Er wollte sie.
Es konnte nicht gut gehen, das wusste Ross. Er würde Lias Ehe nicht zerstören, er würde Lia nicht in die Situation bringen, sich entscheiden zu müssen. Aber er musste wissen, dass es ihr gut ging. Er musste glauben können, dass sie sich in diesem Augenblick nicht irgendwo in Comtosook eine Rasierklinge ans Handgelenk hielt.
Plötzlich kam eine Frau hereingefegt, die ein Kind wie ein Spielzeug hinter sich herzog. »Ich suche nach einem Patienten«, sagte sie an der Anmeldung. »Ross Wakeman.«
Als Ross Shelbys Stimme hörte, fuhr er herum. Er rief ihren Namen.
»Ross!« Sie kam auf ihn zugestürmt, das Gesicht voller Angst. Ethan trug seine Tageslichtkleidung – von Kopf bis Fuß verhüllt. Die Teile des Gesichts, die Ross sehen konnte, waren fleckig und entzündet.
Shelbys Blick huschte von Ross’ Gesicht zu seinen Armen. Den Handgelenken. »Was ist los mit dir? Wie lange bist du schon hier? Herrje, Ross, warum hast du nicht angerufen?«
»Shel, mir geht’s gut. Aber ich suche nach jemandem. Ich dachte, es könnte ihr etwas passiert sein.«
»Dir geht’s also wirklich gut? Ganz bestimmt?«
»Ja.«
»Ein Glück«, entgegnete Shelby und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
Der Anblick, wie Ross’ Kopf nach hinten schnellte, und der Abdruck ihrer Hand auf seiner Haut waren das Befriedigendste, was Shelby in den letzten achtundvierzig Stunden erlebt hatte, denn ungefähr so lange war ihr Bruder wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Sie hatte die Polizei angerufen und war mit einem Detective Rochert verbunden worden, der ihr erklärte, eine Vermisstenanzeige könne erst zwei volle Tage nach dem Verschwinden einer Person aufgenommen werden. Schließlich war sie mit Ethan am helllichten Tag aus dem Haus gegangen, war langsam durch die Stadt gefahren, hatte überall nachgefragt.
»Mensch, Shel«, sagte Ross und hielt sich die brennende Wange. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.«
»Du Scheißkerl.« Shelby kniff die Augen zusammen. »Weißt du
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