Zeit der Gespenster
und verlangte ein Wunder: mit solch verzweifelter Inbrunst, dass Ruby sich schon fast vorgestellt hatte, wie Luxe auf der Bahre das Leichentuch zurückwirft und sich aufsetzt. Solche Wunder hatte es schon gegeben. Ruby hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Sie hatte Meredith nie erzählt, was sie Luxe gestanden hatte, kurz bevor das Herz ihrer Tochter aussetzte. Jetzt jedoch … wo Lucy so litt … vielleicht würde Meredith verstehen, dass die Liebe zu einem Kind eine Frau in den Wahnsinn treiben konnte. »Merry«, sagte Ruby unvermittelt, wollte ihr alles erzählen. »Weißt du noch, als deine Mutter gestorben ist?«
»Ach, Granny«, seufzte Meredith. »Hast du davon geträumt?«
Ihre kühle Hand auf Rubys Wange: Mehr brauchte Ruby nicht, um einzusehen, dass sie nicht denselben Fehler zweimal machen konnte. Sie beschloss, ein für alle Mal einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Das hier war jetzt ihr Leben. Spencer Pike hatte nie wieder angerufen. Und von ihr aus konnte er geradewegs zur Hölle fahren.
Der Hund machte ihn nervös. Das Tier lag etwa einen Meter von Ross’ Fuß entfernt, eine große Pfütze Fell, völlig entspannt, wenn da nicht die dunklen Augen gewesen wären, die Ross starr fixierten, seit er das Büro des Detective betreten hatte. »Mr. Wakeman«, sagte Detective Rochert. »Versetzen Sie sich doch mal für einen Moment in meine Lage. Da kommt jemand, der sich paranormaler Ermittler nennt, in mein Büro spaziert und bittet mich, einen siebzig Jahre alten unaufgeklärten Mordfall wieder aufzunehmen. Von wem soll ich mir denn Zeugenaussagen holen – von Geistern? Und selbst wenn ich einen Täter ermitteln kann, ist der wahrscheinlich tot oder deutlich über neunzig. Kein Staatsanwalt in Vermont würde sich mit so einem Fall befassen.«
Ross schielte zu dem Hund hinüber, der aufgestanden war und die Zähne bleckte. Der Detective schnippte mit dem Finger, und der Hund sackte wie ein Stein zurück auf den Boden. »Ich denke, angesichts der gegenwärtigen Streitigkeiten um das Grundstück ist der Fall aktueller, als Sie glauben. Es ist nun mal ein großer Unterschied, ob eine Frau bei der Geburt ihres Kindes stirbt oder ermordet wird. Vielleicht ist Spencer Pike ja senil. Vielleicht waren die Totenscheine von 1932 fehlerhaft. Aber vielleicht verbirgt sich gerade hier der Grund, warum die Abenaki meinen, sie hätten einen Anspruch auf das Land.«
Eli beugte sich vor, und seine dunklen Augen waren plötzlich eiskalt. »Sie sind nicht zufällig zu mir gekommen, weil Sie wissen, dass ich ein Halb-Abenaki bin, nicht wahr? Sie meinen, ich würde den Fall neu aufrollen, weil ich es denen schuldig bin.«
Ross schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie der diensthabende Detective sind«, sagte er.
Rochert schluckte. »Mr. Wakeman, Sie begnügen sich mit Ahnungen und Mutmaßungen, ich brauche knallharte Beweise.«
»Im Grunde unterscheidet sich meine Arbeit gar nicht so sehr von Ihrer. Geht die Spurensuche nicht immer davon aus, dass Menschen stets etwas von sich zurücklassen?«, antwortete Ross.
»Unsere Erkennungsdienstler können nach Fingerabdrücken suchen. Aber nicht nach …« Er verstummte, und Ross sah, wie Rochert nachdenklich die Stirn in Falten legte. Nach einem Moment sprach er weiter. »Selbst wenn dieser Mord nach siebzig Jahren noch aufgeklärt wird, würde das nichts ändern. Pikes Frau ist und bleibt tot. Ihm gehört das Land. Und er hat nach wie vor das Recht, es zu verkaufen.«
»Kommt drauf an«, sagte Ross.
»Worauf?«
»Wer den Mord damals begangen hat.«
Eli wunderte sich nicht, dass das Polizeirevier von Comtosook noch immer im Besitz der Akte über einen so lange zurückliegenden, ungelösten Mordfall war. Der Grund dafür war nicht darin zu sehen, dass ungeklärte Fälle mit großer Gewissenhaftigkeit behandelt wurden, sondern in der völlig inkompetenten Archivierung. Es war einfach nie jemand auf die Idee gekommen, jemals das Archiv auszumisten. Er wischte sich Spinnweben von der Wange und zog den ausgebeulten Karton aus dem Regal.
Chief Follensbee würde nichts dagegen haben, wenn Eli sich in seiner Freizeit mit der Sache beschäftigte. Als er zu seinem Schreibtisch zurückging, redete er sich ein, dass sein erwachtes Interesse nichts mit den merkwürdigen Dingen zu tun hatte, die er neulich Nacht im alten Pike-Haus erlebt hatte. Auch nicht damit, dass er sich insgeheim fragte, ob die Frau in seinen Träumen vielleicht aus
Weitere Kostenlose Bücher