Zeit der Gespenster
umgeben von Kisten mit den Akten des Standesamtes. Sie waren nach Jahren gebündelt, aber nicht sortiert – dicke Packen von vergilbten Karteikarten, auf denen die Geburten und Todesfälle in Comtosook von 1877 bis in die Gegenwart verzeichnet waren.
Ross hatte sie nicht um Hilfe gebeten. Vielleicht war sie gerade deshalb hier – seit ihrer Auseinandersetzung im Krankenhaus ging er ihr geflissentlich aus dem Weg, aber mit einer Höflichkeit, die sie doppelt schmerzte: ein Zettel auf dem Küchentisch mit der Nachricht, dass er zwischen vier und fünf Uhr morgens zurück sei; eine frische Packung Milch im Kühlschrank, wenn er die letzte ausgetrunken hatte. So vieles stand unausgesprochen im Raum. Wie gerne würde Shelby einfach zu ihrem kleinen Bruder sagen: Siehst du denn nicht, dass ich das nur aus Liebe zu dir tue? Aber sie traute sich nicht, aus Angst, von ihm dasselbe zu hören.
Sie wollte, dass sie wieder aufeinander zugingen. Aber da sie nicht die richtigen Worte fand, um sich bei ihm für ihr Misstrauen zu entschuldigen, wollte sie ihm diese Informationen geben, in der Hoffnung, dass das als Entschuldigung genügte.
Die Kiste mit den Todesfällen ab 1930 hatte in den späten Fünfzigerjahren eine Überschwemmung überstanden, und vor lauter Wasserflecken konnte Shelby auf vielen Karten nicht mal die Namen der Verstorbenen entziffern.
Nach einer Weile fand sie den Packen mit den Totenscheinen des Jahres 1932. Das Gummiband, mit dem sie zusammengehalten wurden, war brüchig und zerfiel in ihren Fingern. Die Karten rutschten auf ihren Schoß. Shelby sah sie rasch durch. BERTELMAN, ADA. MONROE, RAWLENE. QUINCY, OLIVE.
Zwei Karten klebten aneinander. Und auf beiden stand der Name PIKE. Die erste war der Totenschein für ein namenloses tot geborenes Kind. Geschätzter Todeszeitpunkt: 11 Uhr 32 . An der Rückseite klebte der Totenschein für eine Mrs. Spencer Pike. Todeszeitpunkt: 11 Uhr 32 .
Shelby fröstelte trotz der Hitze im Keller. Nicht nur, weil diese Frau, diese Mrs. Spencer Pike, die mit gerade mal achtzehn Jahren gestorben war, ihr Baby nie im Arm hatte halten können. Sondern auch weil das Baby keinen einzigen Atemzug getan hatte. Nein, auch weil der Klebstoff, der die beiden Karten so viele Jahre zusammengehalten hatte, ganz offensichtlich Blut war.
Ruby Weber gab es nicht gerne zu, aber sie wurde langsam alt. Sie erzählte allen, sie sei siebenundsiebzig, doch in Wirklichkeit war sie dreiundachtzig. Ihre Hüften bewegten sich wie rostige Angeln, ihre Augen wurden trübe. Das Schlimmste war, dass sie manchmal mitten im Satz einschlief. Eines Tages würde sie einfach einnicken und vergessen, wieder aufzuwachen.
Aber nicht, bevor es Lucy nicht wieder besser ging. Ruby wusste, dass die Medikamente ihrer Urenkelin halfen, doch das hatte seinen Preis – denn jetzt hatten Lucys Albträume sich bei Ruby eingenistet. Ganz gleich, wo oder wann Ruby jetzt einschlief, immer durchlebte sie erneut den Telefonanruf, der ihr Leben zerstört hatte.
Es war an einem regnerischen Montag gewesen, vor acht Jahren. Als sie ans Telefon ging, dachte sie, es wäre jemand von der Apotheke, der Bescheid sagen wollte, dass ihr Arthritismedikament jetzt da war. Oder vielleicht ihre Tochter Luxe, die vom Markt aus anrief, um ihr zu sagen, dass sie ein bisschen später kommen würde. Aber die Stimme am anderen Ende gehörte einem Geist.
Sie saß noch immer mit dem Hörer in der Hand da, zitternd, als Luxe vom Einkaufen kam. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich in der Schlange gestanden habe«, sagte Luxe. »Als ob die Leute Angst vor einer Hungersnot hätten.« Dann sah sie Rubys Gesicht. »Ma? Was ist denn los?«
Ruby hatte die Hand ausgestreckt und Luxe’ Haut berührt, glatt und warm. Wie machte man einem Menschen begreiflich, dass er nicht der war, der er zu sein glaubte?
Jetzt spürte Ruby Hände auf ihren Schultern, die sie sachte rüttelten. »Granny. Granny .«
Ruby konnte nicht antworten, in Gedanken war sie noch ganz bei Luxe, die zu Boden gesunken war, die Hände auf die Brust gepresst, als Ruby ihr erzählt hatte, wer der Anrufer gewesen war, wer Luxe wirklich war, was Ruby nicht war. Noch immer sah sie Luxe’ Gesicht vor sich, wächsern und still, durch den Eingang der Notaufnahme hindurch, als der Arzt herauskam und ihr mitteilte, dass sie an einem Herzstillstand gestorben war.
An dem Tag, als ihre Mutter starb, war Meredith in Boston gewesen. Sie traf völlig aufgelöst im Krankenhaus ein
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