Zeit der Gespenster
Leidenschaft liegt in seinem Blick. »Ich wollte zu dir. Um jeden Preis. Ich hätte alles dafür gegeben, dich nur ein einziges Mal zu Gesicht zu bekommen. Ob ich gern aus deinem Mund hören würde, dass du meine Tochter bist, wie du es jedem entgegenrufst? Oh ja, ein Teil von mir sagt, dass ich das, was ich getan habe, dafür getan habe. Aber ein größerer Teil von mir will einfach nur, dass es dir gut geht. Und wenn du den Leuten von mir erzählst, werden sie nicht hören, wie stolz du bist, sondern nur, dass du eine Indianerin bist.«
»Das ist mir egal.«
»Weil du nie eine warst. Du hast nicht jahrelang fremde Kleidung getragen, einen fremden Namen angenommen, in fremden Häusern gelebt und jede Arbeit verrichtet, nur um dazuzugehören. Und wenn du dich nicht anpassen kannst, dann läufst du weg … und beweist damit, dass du genau die Zigeunerin bist, für die sie dich die ganze Zeit gehalten haben.« Er schüttelt traurig den Kopf. »Ich möchte, dass du ein besseres Leben hast als ich. Selbst wenn das bedeutet, dass du dich von mir fernhältst.«
Das Baby in mir dreht sich langsam, beunruhigt. »Aber warum hast du dann überhaupt nach mir gesucht? Wieso hast du dich nicht einfach ferngehalten?«
Er starrt mich lange an. »Ich musste zu dir.«
»Wie kannst du mich dann bitten, dich zu meiden?«, frage ich.
Er blickt aus dem Zelt in den Regen. »Du wirst es verstehen, wenn das Baby erst da ist. Es gibt einen alten Ausdruck, awani kia . Er bedeutet: ›Wer bist du.‹ Nicht dein Name, sondern dein Volk. Man hört ihn häufig, wenn man unterwegs ist. Jedes Jahr im Winter, wenn ich nach Odonak ziehe und mich jemand fragt, erzähle ich von meinem Urgroßvater, der ein spiritueller Führer war. Oder von meiner Tante Sopi, die beste Heilerin zu ihrer Zeit. Jeden Winter, wenn ich die Frage beantworte, erinnert mich das daran, dass es keine Rolle spielt, wie die Leute mich nennen, solange ich weiß, wer ich wirklich bin.« Er zögert. »Diesmal werde ich ihnen von dir erzählen.«
Es ist das erste Mal, dass er davon spricht, das Lager zu verlassen. Er ist ein Wanderer, ein Reisender – das hab ich die ganze Zeit gewusst. Aber zum ersten Mal wird mir klar, dass er mich verlassen wird.
»Was, wenn ich mitkomme?«, entfährt es mir.
»Nach Odonak? Ich glaube nicht, dass du dort glücklich wärst.«
»Aber hier bin ich auch nicht glücklich.«
»Lia«, sagt er ruhig. »Ich werde dir nicht sagen, dass du nicht mitkommen sollst. Dafür bin ich zu selbstsüchtig. Aber sobald du in Kanada bist, wirst du daran denken, was du zurückgelassen hast.«
»Das kannst du nicht wissen!«
»Kann ich nicht?« Er blickt auf den Tisch, die Brosche meiner Mutter. »Ein Mensch kann nicht zugleich in zwei Welten leben.«
»Aber du hast mich doch gerade erst gefunden!«
Gray Wolf lächelt. »Wer hat denn gesagt, dass ich dich verloren hatte?«
Ich senke den Kopf. Unwillkürlich reibe ich mit den Fingern über die Narben an meinem Handgelenk. »Ich bin nicht so tapfer wie du«, sage ich.
»Nein«, entgegnet er. »Du bist tapferer.«
Niemand hat das Recht, Kinder in die Welt zu setzen, wenn er so gesündigt hat, dass seine Kinder darunter leiden müssten.
Mr. Harding aus W. Fairlee, zitiert in der »Burlington Free Press« vom 21. März 1931, im Zusammenhang mit der Debatte über das Sterilisationsgesetz
Im Billardzimmer klicken die Kugeln aneinander. »Spencer«, sagt mein Vater lachend, »du wirst dich doch nicht von einem alten Mann wie mir schlagen lassen!«
Ich lächle und drücke mir die Hand ins Kreuz. Ich stehe vor der Anrichte in der Diele und zähle unser Silberbesteck. Spencer möchte, dass ich das einmal im Monat mache. Er sagt, man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich bin beim siebten Teelöffel, als ich das Wort Zigeuner höre.
»Tja«, sagt Spencer daraufhin, »ich hab die Arbeit selbst beenden müssen.«
»Überrascht mich nicht.« Ein scharfes Klacken, als mein Vater sein Queue gegen eine Kugel stößt. »Stehlen, Lügen … würde mich nicht wundern, wenn Unzuverlässigkeit ein vererbbares Merkmal ist.«
»Na, der hier hatte auch noch wegen Mordes im Gefängnis gesessen.«
»Großer Gott …«
»Genau.« Spencer misslingt offenbar ein Stoß, denn er flucht leise. »Ich bin durchaus für Resozialisierung, aber ich möchte wirklich nicht riskieren, dass meine eigene Frau dadurch zu Schaden kommt.«
Ein lautes Klackern ertönt, mein Vater legt die Kugeln für ein neues Spiel auf. »Das Problem
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