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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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trug. Darin stand nichts über ihre Heirat oder ihr Befinden oder das Kind. Darin stand nur: Komm zurück . John antwortete nicht auf den Brief, weil er wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte. Nach einem Monat wachte Lily nicht mehr mit seinem Geschmack auf den Lippen auf. Nach drei Monaten konnte sie sich nicht mehr an den Holzrauch in seiner Stimme erinnern. Nach sechs Monaten bekam sie Albträume, dass ihr Baby mit rabenschwarzem Haar und zimtfarbener Haut zur Welt kommen würde.
    Lily Robinson Beaumont erlitt eine Frühgeburt; sie fiel nach vierzig Stunden Wehen in tiefe Bewusstlosigkeit und starb kurz darauf. Sie hatte Johns Namen auf der Zunge und nahm ihn mit sich. Sie wusste nicht, dass John eines Tages zurückkommen würde – selbst als er von einem bestechlichen Gefängniswärter erfahren hatte, dass seine Geliebte in die Geisterwelt übergegangen war. Sie wusste nicht, dass die Tochter, die sie zurückließ, Cecelia, goldenes Haar hatte und eine Haut so weiß wie ein Wunder.

    In meinen Träumen gebäre ich den Teufel, Jesus, einen Titanen, der mich zerreißt. Ich blute aus allen Poren, und wenn ich aufwache, sind die Laken schweißdurchtränkt. Das Fenster im Schlafzimmer klemmt. Etliche Male versucht Spencer vergeblich, es zu öffnen. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen.
    Als ich heute Nacht aus dem Schlaf aufschrecke, erwacht Spencer nicht mit mir. Ich schlüpfe aus dem Bett, der Teppich dämpft meine Schritte, als ich die Treppe hinuntergehe. Spencer hat die Tür seines Arbeitszimmers offen gelassen.
    Ich knipse die grüne Schreibtischlampe an. Ich war schon unzählige Male in diesem Zimmer, doch nie mit der Absicht, etwas zu suchen. Wo könnte Spencer es aufbewahren?
    Auf seinem Schreibtisch liegen ordentliche Papierstapel. Sein Block ist mit unleserlichen Notizen vollgekritzelt. Einige Worte kann ich entziffern: Zwillinge, Vormundschaft, epidemisch . In einem Schirmständer neben dem Tisch stehen aufgerollte Stammbaumkarten. Sie tragen Überschriften: Delaire, Moulton, Waverly, Olivette – kein Delacour. Könnte mein Vater – mein Vater ? – den Stammbaum von Gray Wolfs Familie unter einem anderen Namen abgelegt haben?
    Weber/George .
    Die Überschrift springt mir ins Auge. Behutsam ziehe ich die Karte aus dem Ständer und entrolle sie auf dem Tisch. Es ist nicht schwer, Rubys Namen zu finden, er steht ganz unten zwischen anderen, und Spencer hat ihn mit roter Tinte markiert. Ich sehe mathematische Berechnungen und Anmerkungen in seiner engen Handschrift. Er wollte ermitteln, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Ruby sich ebenso schlimm entwickelt wie ihre Verwandten.
    Neben dem Namen ihrer geliebten Schwester befindet sich eine Markierung, dunkel wie ein Brandmal. Sx , für Unmoralisch.
    Dasselbe Symbol hätte man auch meiner Mutter verpasst.
    »Cissy.«
    Spencers Stimme ist ganz leise, und doch fahre ich ruckartig hoch. Ich sehe seine Silhouette in der offenen Tür. Er hat seinen Bademantel an und beobachtet mich. Als er ins Zimmer tritt, fällt sein Blick auf den Tisch.
    Einen quälenden Moment lang denke ich, er weiß genau, wonach ich gesucht habe. Doch aus unerfindlichen Gründen glättet sich sein Gesicht zu einer Maske. »Schatz, du bist wieder schlafgewandelt.«
    »Ja.« Ich räuspere mich.
    Er bietet mir seinen Arm an und führt mich aus dem Arbeitszimmer, schließt die Tür hinter uns ab. »Daran ist nur das Baby schuld«, sagte Spencer, ohne mein Gesicht aus den Augen zu lassen.
    Wir sprechen über zwei verschiedene Dinge, und das wissen wir beide. »Nein«, antworte ich.

    Am nächsten Morgen sitze ich vor dem Spiegel an meiner Frisierkommode, als Spencer sich zu mir beugt und mir einen Kuss auf den Hals gibt. »Wie fühlst du dich?«, fragt er, als wäre letzte Nacht nichts passiert.
    Ich lege die Bürste aus der Hand. »Gut.«
    Spencers Hand gleitet an meinem Nachthemd hinunter auf die Leibeswölbung, die unseren Sohn birgt. »Und wie fühlt er sich?«
    »Er fühlt sich schwer an.«
    Wir sind ein schönes Paar.
    »Spencer«, sage ich vorsichtig. »Ich muss mit dir reden.«
    Aber inzwischen hat er die Hände an meinen Armen hinuntergleiten lassen, und seine Finger liebkosen den allmählich verheilenden Wulst an meinem Handgelenk. Er hat den Kopf geneigt und schweigt, aber ich kann seine Gedanken lesen: Wenn er mich nicht lieben würde, wäre alles viel einfacher.
    Aber er liebt ja nicht mich . Er kennt mich nicht einmal richtig. Wenn Spencer schon nicht zu einer Frau

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