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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ihm stimmt was nicht«, sagte sie vorwurfsvoll.
    Er hätte ihr gern mit der Hand über den Rücken gestrichen. Er hätte sie gern in die Arme genommen.
    »Eigentlich«, sagte Eli, »hab ich gerade gedacht, er sieht aus wie Sie.«

    Der Laut war kaum zu vernehmen, doch er hallte durch Spencer Pikes Schädel. Wie viele Kissen er sich auch über den Kopf legte, das Schreien des Babys hörte er trotzdem noch. Spencer wand sich, zerkratzte sich die Ohren, bis ihm Blut in den Pyjamakragen lief.
    »Mr. Pike! Um Himmels willen. Ich brauche hier jemanden, der mir hilft!«, schrie die Krankenschwester in die Sprechanlage.
    Zwei Pfleger waren erforderlich, um Spencer die Arme nach unten zu drücken, bis er am Bett festgeschnallt war. »Das Baby«, keuchte Spencer, während die Krankenschwester die tiefen Kratzwunden um seine Ohren betupfte. »Schafft das verfluchte Baby weg.«
    »Hier ist kein Baby. Sie hatten bestimmt einen Albtraum.«
    Tränen liefen ihm über das Gesicht. Das Geräusch zerriss ihm den Schädel. Wieso konnten sie es nicht hören? »Das Baby«, schluchzte er.
    Die Krankenschwester gab ihm eine Beruhigungsspritze. »Gleich geht’s Ihnen wieder besser.«
    Aber das stimmte nicht. Er würde nur einschlafen, und im Schlaf würde das Baby auf ihn warten. Er lag ganz still da, starrte an die Decke, während das Beruhigungsmittel sich in ihm ausbreitete. Er spürte, wie seine Hände sich entspannten, dann die Beine und schließlich sein Kiefer. »Wann werde ich sterben?«, dachte Spencer, doch er hatte offenbar laut gesprochen.
    Denn die Krankenschwester blickte ihn unverwandt mit ihren braunen Augen an. »Bald«, sagte sie sanft.
    Spencer seufzte. Ihre Antwort brachte ihm größere Erleichterung, als es irgendein Medikament vermocht hätte.

    Männer, fand Meredith, waren ein Accessoire. Man brauchte nicht unbedingt einen, um sein Aussehen zu vervollkommnen.
    Jetzt, um kurz vor elf Uhr abends, war sie auf dem Weg nach Hause. Die Fahrt vom Büro war die einzige Zeit am Tag, zu der sie es sich erlaubte, an andere Dinge als an ihre Arbeit zu denken.
    Es regnete. Meredith dachte an Lucy, bei der sich noch immer keine Besserung abzeichnete, obwohl sie das Risperdal nicht mehr nehmen musste. Eher war ihre Tochter noch wunderlicher geworden – sie sprach beim Frühstück mit Leuten, die gar nicht da waren, und schnallte im Auto auf dem Sitz neben sich etwas nicht Vorhandenes an. Meredith hatte eine Schwäche für wissenschaftliche Tatsachen, sagte sich aber, dass ihre Tochter die genetische Anlage zu blühender Phantasie in sich trug.
    Sie bog in die Einfahrt zum Haus. Nur im Wohnzimmer brannte noch Licht. Die beiden schliefen längst. Meredith stieg steifbeinig aus dem Wagen. Einen Augenblick lang stockte ihr der Atem angesichts der wunderschönen Sternennacht. Sie brachte so viel Zeit dafür auf, sich die winzigsten Elemente des Menschseins anzuschauen, dass sie manchmal vergaß, wie einfach die Welt doch sein konnte.
    Meredith trat ins Haus und sah, dass Lucy auf der Treppe saß, komplett angezogen. Sie starrte geradeaus auf einen Koffer zu ihren Füßen. »Luce?«, sagte sie, doch ihre Tochter reagierte nicht.
    »Sie kann dich nicht hören.«
    Ruby kam die Treppe herunter. Ihr langes, weißes Haar wie eine Wolke, die Hände Halt suchend um das Geländer gelegt. »Sie schlafwandelt.«
    Sie schlafwandelt? Lucys Augen waren offen. »Bist du sicher?«, fragte Meredith ihre Großmutter. »Bist du schon mal schlafgewandelt?«
    Ruby beugte sich zu Lucy hinab und half ihr hoch. »Ich kannte mal jemanden, der das oft getan hat.«
    Lucy folgte Ruby nach oben, fügsam wie ein Lamm. Meredith wollte ihnen nach und stolperte über den Koffer. Er klappte auf, und der Inhalt ergoss sich zu ihren Füßen: ein Berg von Puppen. Es waren Puppen, mit denen Lucy seit Jahren nicht mehr gespielt hatte, und sie starrten zu Meredith hoch, mit glasigen Augen.

    Wenn man zu einem Haus kommt, in dem Menschen wohnen, die man liebt, und man einen Streifenwagen davor stehen sieht, hat man das Gefühl, als würde einem das Herz unter Strom gesetzt. Ross sprang aus seinem Wagen, rannte die Einfahrt hoch und rief, schon während er die Tür aufriss, Shelbys Namen.
    Sie stand sofort auf. »Ross!« Er musterte sie und Ethan, der mit seinem Skateboard hinter Ross hereingekommen war, und blickte dann den Cop an, der im Wohnzimmer stand.
    Etwas verspätet merkte er, dass Shelby seine verdreckte Kleidung und sein nasses Haar registrierte. Bestimmt hatte sie

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