Zeit der Gespenster
von hier wegbringen.«
»Aber der Professor hat doch gesagt …«
Ich packe Ruby an den Schultern. »Hast du die Leiche gesehen? Hast du das?«
»Ich hab – ich hab …« Rubys Zähne schlagen aufeinander.
»Verdammt, Ruby, nun sag schon!« Ich schüttele sie, und sie reißt sich von mir los. Ich will ihr folgen, da ziehen mich Hände hinaus aus der Kammer in die Küche. »Lass mich los, Spencer«, sage ich, versuche mit aller Kraft, mich zu befreien.
Er sieht Ruby an. »Ruf Dr. DuBois noch mal an. Sag ihm, er soll sofort herkommen.«
»Lass mich los! Ruby, er lügt. Lass los – Lily!«, kreische ich. » Lily! «
Nur mit Mühe gelingt es Spencer, mich aus der Küche zu zerren. Ruby steht wie angewurzelt da, sieht zu, wie er mich, die ich noch immer schreie und tobe, am Handgelenk die Treppe hinaufzieht. »Das hier geht dich nichts an, Ruby«, ruft Spencer ihr zu. »Du siehst ja, dass Mrs. Pike nicht sie selbst ist, und ich werde dafür sorgen, dass sie sich beruhigt.« Er ächzt, als einer meiner Tritte ihn mit voller Wucht am Schienbein trifft. »Ruf den Doktor. Und dann tust du, was ich dir gesagt habe.«
»Hör nicht auf ihn, Ruby!«
Sie scheint vor meinen Augen zu schrumpfen. »Los«, bellt Spencer. »Sofort.« Plötzlich sacke ich in seinen Armen zusammen. Er fängt mich auf, bevor ich zu Boden falle, und trägt mich ins Schlafzimmer. Ich halte die Augen geschlossen, auch als er verschämt die Binde zwischen meinen Beinen überprüft, ob ich nicht zu stark blute, auch als er tief seufzt, wie ein Mann, der alle Hoffnung verloren hat. Dann deckt Spencer mich zu, zieht mir die Schuhe aus, geht aus dem Zimmer und schließt sorgfältig die Tür hinter sich ab.
Ich habe nicht das Gefühl, gescheitert zu sein.
Schließlich weiß ich jetzt, dass Lily irgendwo da draußen versteckt sein muss.
Warum geben wir nicht auf? … Seit Jahren bemühen wir uns, und was haben wir erreicht?
Solange das Geld reichte, war alles gut und schön, jetzt jedoch sieht die Sache anders aus. Falls Hitler mit seiner Sterilisation im großen Stil Erfolg hat, wäre das eine Demonstration, die der Eugenik mehr Auftrieb geben würde, als das hundert Eugenikgesellschaften könnten. Falls er im großen Stil scheitert, wird das der Bewegung dermaßen schaden, dass auch hundert Eugenikgesellschaften sie nicht mehr retten könnten.
Auszug aus einem Brief vom 1. Februar 1934 von Henry H. Goddard an H. F. Perkins als Antwort auf eine Bitte um finanzielle Unterstützung, Eugenik-Erhebung-Vermont, (EEV-)Papiere, Öffentliches Archiv, Middlesex, Vermont
Die größte Schwierigkeit ist, die Scheibe einzuschlagen. Das geräuschlos zu bewerkstelligen ist nahezu unmöglich. Ich wickele die Bettdecke um den Stuhl und kann so den Lärm etwas dämpfen. Draußen neben dem Fenster lehnt noch immer die Leiter für die Dachreparatur. Im Nu bin ich unten angekommen und schleiche unter dem Lichtschein hinweg, der aus Spencers Arbeitszimmer fällt. Der helle Mond ermöglicht gute Sicht.
Das Grundstück ist riesig, und sie könnte überall sein.
Ich suche unter den Büschen entlang der Veranda, unter der Veranda selbst, am Feuerholzstapel an der Ostwand. Hinter dem Haus gehe ich in größer werdenden Kreisen Richtung Wald, bis ich mich schließlich einfach auf den Boden setze und haltlos weine.
Es ist schrecklich , wird Spencer zu Dr. DuBois sagen, wenn er eintrifft. Ich hab sie gefunden, wie sie in der Erde wühlte. Nein, es ist nicht das erste Mal, dass sie schlafgewandelt ist … aber diesmal kommt sie gar nicht mehr zu sich.
Aber ist es denn wirklich verrückt, nach etwas zu suchen, von dem man weiß, dass es irgendwo ist?
Ich blicke zum Haus zurück. In Rubys Zimmer ist kein Licht, in Spencers Arbeitszimmer keine Silhouette. Ich schließe orientierungslos die Augen, und als ich erneut blinzele, zeichnen sich die Umrisse des Eishauses vor dem Nachthimmel ab. Wieder hat jemand die Tür angelehnt gelassen. Ich stehe auf, werde von einer unsichtbaren Schnur in den eiskalten Bauch der Hütte gezogen.
Meine Schuhsohlen rutschen auf dem Sägemehl. Schimmernde Eisblöcke liegen dicht nebeneinander, eine leuchtende Reihe von Riesenzähnen. Ich sehe die Bratenstücke, die Ruby für die Dinnerparty gekauft hat, die nicht stattfinden wird. Und auf einem Eisblock steht eine alte Apfelkiste, der Deckel liegt daneben.
Drinnen ist die kleinste, regloseste Puppe, die ich je gesehen habe.
»Nein. Nein . Oh nein.« Ich umklammere den rauen Rand der
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