Zeit der Gespenster
Kiste, den winzigen Sarg, und betrachte das Gesicht meiner Tochter.
Ihre Wimpern sind so lang wie der Nagel meines kleinen Fingers. Ihre Wangen sind blass, milchig blau. Ihre Faust, so unglaublich klein, ist zusammengerollt wie eine Schnecke. Ich berühre ihr Grübchenkinn mit dem Finger, ihr winziges Ohr. »Lily«, flüstere ich. »Lily Delacour Pike.«
In dem eiskalten Kinderzimmer hebe ich meine Tochter aus der Wiege. Ich wickele die Decke fester um sie, damit sie es schön warm hat. Ich drücke sie an meine Brust, damit sie hört, wie mein Herz bricht.
Spencer kann sie mir nicht wegnehmen. Dazu müsste ich sie erst gehen lassen.
Awani kia , denke ich. In der anderen Welt wird man sie fragen, wer sie ist. »Erzähl ihnen von deiner Großmutter und deinem Großvater, die eine Brücke aus Liebe gebaut haben«, sage ich an ihrer Haut. »Erzähl ihnen von deinem Vater, der glaubte, das Richtige zu tun. Und erzähl ihnen von mir.« Ich küsse sie, lasse meine Lippen einen Augenblick auf ihrer Haut. »Erzähl ihnen, dass ich komme.«
Dann lege ich mein Baby zurück in das Bettchen und presse mir die Faust auf den Mund, um all den Schmerz in mir zu halten. Bis in alle Ewigkeit werde ich mich fragen, ob Spencer die Wahrheit gesagt hat. Ob Lily tatsächlich von allein in seinen Armen aufgehört hat zu atmen oder ob er nachgeholfen hat. Vielleicht wird er mir eines Tages sagen: Ich habe es nur getan, weil ich dich liebte .
»Ich auch«, sage ich laut.
Spencer wird bald aufwachen und nach mir suchen. Und er wird mir dafür bezahlen. Es gibt Möglichkeiten, der Polizei zu zeigen, was wirklich passiert ist. Ich werde alles tun, was dazu erforderlich ist, selbst wenn es mich das Leben kostet.
Es bleibt nicht viel Zeit. Ich greife erneut in die Kiste, wo das Gesichtchen meiner Kleinen in meine geöffnete Hand passt. Ihre Nase und ihr Kinn drücken sich hinein, eine Erinnerung, die ich mitnehmen werde.
Ich denke an Madame Soliat am Unabhängigkeitstag, mit ihrem Wolfshund und ihrem Zelt.
Ich brauche keine Wahrsagerin mehr. Ich weiß, was als Nächstes kommt.
TEIL DREI
2001
Die Toten sprechen weiter mit den Lebenden.
THOMAS HARDY
ACHT
Wenn Az Thompson nachts nicht im Steinbruch arbeitete, wühlte er sich stundenlang durch das Durcheinander von Fakten in seinem Kopf.
Die Ärzte nannten so etwas Schlaflosigkeit, aber Az wusste es besser. Er ging nicht schlafen, weil er dann nicht aufwachen und sich fragen musste, warum er über Nacht nicht gestorben war.
Az war körperlich erschöpft, doch er legte sich nicht auf die Pritsche. Stattdessen beobachtete er, wie die Regentropfen auf das Dach seines Zeltes trommelten. In vier Stunden würde die Sonne aufgehen, und er würde immer noch da sein.
Plötzlich hörte er einen Schrei. Er schien gleichzeitig aus dem fernen Wald und aus Az selbst zu kommen, eher ein wehes Ziehen als ein Klang.
Da – wieder der Klang.
Das war kein Donner. Der Ton war zu tief für ein Kind und zu kehlig für eine Frau. Nein, es war das Requiem eines Mannes, der so viel verloren hatte, dass er sich selbst nicht mehr finden konnte. Jemand wie … ja, er selbst.
Az seufzte. Er glaubte nicht an den ganzen mystischen Quatsch, aber er wusste auch, dass die Vergangenheit in vielerlei Verkleidungen wiederkehren konnte, als schriller Schrei einer Eule oder auch als die Augen eines Fremden, die einem auf der Straße hinterherblickten. Und wer sollte besser wissen als er, dass man, wenn man seiner eigenen Geschichte den Rücken kehrte, umso leichter von ihr überrumpelt werden konnte.
Andererseits war da draußen vielleicht nur jemand im Dunkeln gestolpert und hatte sich verletzt.
So oder so, dachte Az müde, er würde nachsehen müssen.
Ross saß auf dem Boden des Zeltes, Az Thompsons Indianerdecke um die Schultern gewickelt. Hose und Hemd waren völlig verdreckt. Das nasse Haar fiel ihm in die Augen, während er den Instantkaffee trank, den der alte Mann mit einem batteriebetriebenen Tauchsieder zubereitet hatte. Er zitterte wie Espenlaub, nicht wegen der Feuchtigkeit, die ihm bis ins Mark drang, sondern wegen einer Frau, die nach Rosen duftete. Einer Frau, in die er sich … verliebt hatte. Eine Frau, die nicht mehr lebte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Az.
Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.
Ross konnte nicht antworten. Er beugte den Kopf zum Kaffeebecher und nahm einen Schluck, der ihm heiß in der Kehle brannte. Tränen schossen ihm in die Augen.
Er hatte mit eigenen
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