Zeit der Hingabe
Die Reisetasche, die für sie gepackt worden war, erschien ihr sehr klein. Sie wusste nicht, was sie enthielt, aber viel konnte es nicht sein.
Sie hatte ihr Bestes gegeben, hatte ihre Karten geschickt ausgespielt, musste sich aber den Tatsachen stellen: Sie hatte verloren. Lucien hatte immer wieder neue Trümpfe ausgespielt und sie übertrumpft. Gegen die Strategien eines Meisterspielers hatte sie keine Chance. Er brachte sie zu seinen lasterhaften Freunden; der endgültige Beweis, wie wenig ihm an ihr lag. Jede Hoffnung auf eine harmonische Beziehung mit ihm war in ihr erloschen.
Zu ihrer großen Erleichterung begleitete er die Karosse zu Pferd. Es wäre ihr sehr schwergefallen, ihm mit geistlosen Plaudereien während der vierstündigen Fahrt auf die Nerven zu gehen. Auf diese Weise blieb ihr wenigstens genügend Zeit, um darüber nachzudenken, ob es eine Fluchtmöglichkeit für sie gab.
Er hatte ihr mehrmals versichert, er würde sie nicht mit Gewalt nehmen. Ein Versprechen, das sich allerdings nur auf seine Person bezog, da er offenbar vorhatte, sie seinen verlotterten Freunden anzubieten. Und sie hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wenn sie sich zur Wehr setzte. Vielleicht würde das für ihn den Reiz an dem teuflischen Spiel nur erhöhen. Sie hatte sich nicht gegen St. Johns Zudringlichkeiten gewehrt, aber von einer Bande verderbter Aristokraten würde sie sich nie und nimmer begrapschen lassen.
Vielleicht konnte sie fliehen. Sie hatte Lucien deutlich zu verstehen gegeben, dass sie gefügig war. Wenn er sie aber nur eine Weile aus den Augen ließ, würde sie die Gelegenheit beim Schopf packen.
Ihre Chancen waren gering. Sie hatte kein Geld, wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Er würde sie rasch finden, und wenn jemand ihr helfen wollte, würde er eine Lügengeschichte erfinden und sie möglicherweise für verrückt erklären. Vielleicht würde er sogar töten, wenn jemand ihr Hilfe anbot. Sie traute ihm alles zu, konnte nicht wissen, wie weit er in seiner Niedertracht gehen würde. Die einzigen Menschen, die sie retten könnten, waren ihre Brüder, aber die hatten keine Ahnung, wohin sie verschleppt worden war.
Nicht einmal Jane wusste genau, wohin die Reise gegangen war, konnte ihrer Familie nur sagen, dass sie nach Norden gefahren waren, aber keine näheren Angaben machen.
Irgendwann würde man sie finden. Aber nicht rechtzeitig genug.
Wenn er mit ihr in der Kutsche gereist wäre, hätte sie ihn vielleicht dazu überreden können, seine Meinung zu ändern. Vielleicht ahnte er das und ritt deshalb neben dem Wagen her. Einerlei, ihr blieb keine andere Wahl. Sie raffte die Röcke und holte den Dolch hervor, den sie in ihr Strumpfband gesteckt hatte.
Eine mörderische Waffe aus dem englischen Bürgerkrieg Mitte des 17. Jahrhunderts, die Miranda aus der Waffensammlung im Korridor des zweiten Stocks entwendet hatte. Der lange Dolch hatte eine gefährliche Spitze, allerdings war die Schneide ziemlich stumpf und rostig. An den Wänden von Pawlfrey House hingen so viele Waffen, dass Lucien den fehlenden Dolch gewiss nicht bemerkt hatte.
Wenn es zum Äußersten käme, würde sie ihn benutzen.
Sie wollte ihn nicht tödlich treffen, ihm nur eine böse Wunde zufügen, schmerzhaft genug, um ihr Zeit zu geben, die Flucht zu ergreifen. St. John hatte sie einen Krug über den Kopf geschlagen, worauf er die Besinnung verloren hatte. Allerdings fürchtete sie, Lucien habe einen zu harten Schädel, als dass ein solcher Schlag Wirkung zeigen würde. Im Übrigen wollte sie sein Blut sehen.
Sie steckte die Waffe zurück ins Strumpfband. Beim Einsteigen war sie ihr hinderlich gewesen, aber dem Lakai, der ihr Hilfestellung gegeben hatte, war nichts aufgefallen, und Lucien war mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen, vermutlich mit ihrer endgültigen Demütigung.
Der Satanische Bund, Gott bewahre! Sie fürchtete keine Blutopfer und Schwarze Messen. Sie wusste, dass die Gerüchte über diesen Geheimbund reichlich übertrieben waren. Sowohl ihr Vater als auch ihr Großvater, der berüchtigte Francis Rohan, waren in den Jugendjahren Mitglieder gewesen. Und falls sich in den letzten Jahren nicht sehr viel verändert hatte, waren die Mitglieder nichts weiter als eine Schar gelangweilter Adeliger, die sich einen Spaß daraus machten, sich seltsam zu verkleiden, Gott und die Kirche zu verhöhnen, erotischen Vergnügen nachzugehen und ausschweifende Zechgelage zu feiern. Sollten diese jämmerlichen Gestalten
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