Zeit der Hingabe
geben.
Kurz vor Morgengrauen erreichten sie Pawlfrey House, ihrem kalten abweisenden Gefängnis. Lucien stieg aus und reichte ihr höflich die Hand, die sie geflissentlich übersah und ohne seine Hilfe ausstieg. Einer der neuen Lakaien öffnete das Portal, verschlafen blinzelnd.
„Ruhen Sie sich aus, Madam“, sagte Lucien förmlich, der keinen weiteren Versuch unternahm, sie zu berühren. „Ich reite aus.“
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, rauschte sie an ihm vorbei in die Halle. Hoffentlich stürzte er vom Pferd und brach sich das Genick oder blieb einfach für immer fort. Sie könnte sich damit abfinden, in diesem Haus zu leben, sobald sie Mrs Humber losgeworden war.
Wenn sie sein Kind unter dem Herzen trug, wäre sie bald nicht mehr allein. Diese Möglichkeit wäre immerhin nicht völlig auszuschließen. Manche Frauen empfingen bereits beim Anblick eines nackten Mannes, während andere jahrelang vergeblich auf das glückliche Ereignis warten mussten. Miranda wusste nicht, was sie sich wünschte und wollte ihre Zeit nicht mit unsinnigen Gedanken verschwenden. Sie wollte nur dieses grässliche Gewand loswerden und sich in ihrem Bett verkriechen.
Zu ihrem Erstaunen wurde sie in ihrem Schlafzimmer von Bridget empfangen. Beim Anblick des durchsichtigen Gespinsts, nachdem ihre Herrin den Dominoumhang abgeworfen hatte, blieb ihr vor Schreck der Mund offen stehen.
„Hilf mir, diesen Fetzen loszuwerden“, stieß Miranda gepresst hervor und zerrte bereits an den goldenen Bändern um ihre Mitte.
Bridget machte sich eilig daran zu schaffen, stellte sich dabei denkbar ungeschickt an, und um Mirandas eisige Ruhe war es geschehen. „Beeil dich!“ Ihre Stimme überschlug sich, sie zerrte wütend an den Bändern, worauf die Knoten sich nur noch fester zuzogen. „Ich ertrage es nicht länger. Weg mit dem Ding! Zerreiße es oder nimm eine Schere …“
Bridget schnitt die goldene Lederkordel durch, und das schwarze Gespinst fiel raschelnd zu Boden. Miranda wurde von trockenem Schluchzen geschüttelt, der unaussprechliche Schmerz ihrer tiefen Demütigung brach sich endlich hemmungslos Bahn, und Bridget schlang ihre kräftigen Arme um sie und wiegte sie wie ein kleines Kind.
„Es wird alles gut, Mylady. Weinen Sie nicht. Er hat sie doch zurückgebracht, nicht wahr? Ich wusste, dass er es nicht über sich bringt, obwohl Mrs Humber meinte, Sie kommen nie wieder nach Hause. Aber ich wusste es besser. Ich habe hier auf Sie gewartet, und nun sind Sie wieder da.“ Sie drückte die zitternde nackte Miranda an ihren üppigen Busen. „Unser Herr ist nicht so böse, wie er tut. Und wenn Sie mich fragen, hat er sie gern, ob er es zugibt oder nicht.“
„Ich frage dich aber nicht“, verwehrte Miranda sich mit dünner trotziger Stimme, während Bridget ihr ein frisches weißes Hemd überstreifte. „Es ist mir egal, was er gern hat oder nicht. Mir ist alles egal.“
„Natürlich, Mylady, das kann ich gut verstehen. Ich bringe Ihnen eine schöne heiße Tasse Tee, die wird Sie beruhigen, und dann werden Sie gut schlafen …“
Miranda schüttelte heftig den Kopf. „Ich will keinen Tee“, lehnte sie tränenerstickt ab. „Ich will nur schlafen.“
„Sehr wohl, Mylady.“ Bridget half ihr ins Bett und deckte sie fürsorglich zu. Alles war weiß und sauber. Die widerwärtigen Hände, die sie wie Schlangengezücht berührt hatten, existierten nicht mehr, und Lucien war weit weg. Sie würde überleben.
Miranda zog die frisch bezogene wohlriechende Decke bis über die Ohren und schloss die Augen, schloss alles aus und endlich übermannte sie der wohltuende Schlaf.
27. Kapitel
L ucien jagte im gestreckten Galopp durch den erwachenden Morgen. Er hatte den Verstand verloren, war dem Wahnsinn verfallen und sollte in eine Irrenanstalt gesperrt werden zu all den anderen Geistesgestörten. Was zum Teufel war nur in ihn gefahren? Die Vollendung seiner Rache war zum Greifen nah gewesen, und er, ausgemachter Vollidiot, der er war, hatte den Schwanz eingekniffen und sie gerettet.
Er hatte sie sich auf seine Arme geschwungen wie ein verdammter romantischer Held, hatte sie zurück in sein Haus gebracht und danach die Flucht ergriffen.
Ein Blick auf Christopher St. John in der ersten Reihe der gaffenden Lüstlinge hatte ihm die Augen geöffnet, wie weit er es auf dem Weg ins Verderben gebracht hatte.
Wenn die Möglichkeit bestanden hätte, bis nach London zu reiten, hätte er es getan. Er war sogar bereits einige Meilen
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