Zeit der Hingabe
Opfer hypnotisierte, bevor er es mit seinem Giftstachel tötete. Die sanfte Berührung seiner Finger an ihrer Wange löste mehr in ihr aus, als es Christopher St. John je vermocht hatte. Lord Rochdale war ein gefährlicher Verführer. Er jagte ihr Angst ein, aber sie schaffte es nicht, sich ihm zu entziehen. Sie blickte ihm unverwandt in die Augen, er näherte sich ihrem Gesicht, und sie sehnte sich nach seinem Kuss.
„Hoppla! Tut mir leid, alter Freund“, ertönte eine Männerstimme vom Ende des Korridors, und ein Pärchen entfernte sich tuschelnd und kichernd. Aber Rochdale war bereits einen Schritt zurückgetreten, und der magische Bann war gebrochen.
„Keine Sorge“, sagte er in seiner verführerischen Stimme. „Man hat Sie nicht erkannt. Die beiden reden über mich und das arme Opfer, das ich hierher gelockt habe.“
Miranda holte tief Atem. „Haben Sie mich denn hierher gelockt?“
„Keineswegs. Ich bat Sie, mich zu begleiten. Daran ist nichts Verwerfliches. Ich wollte nur einem Freund einen Gefallen erweisen.“ Er nickte in die Richtung einer Mauernische, in der zwei Stühle standen. „Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein Weilchen setzen? Es fällt mir schwer, lange zu stehen.“
Der letzte Rest ihres Grolls schwand. „Aber gerne“, sagte sie. „Tut mir leid, ich vergesse immer wieder, dass …“
„Dass ich ein Krüppel bin?“ Er klang amüsiert und leicht erstaunt. „Wenn dem so ist, sind Sie der einzige Mensch.“ Er wartete, bis Miranda Platz genommen hatte, bevor er sich setzte. „Während ich ständig auf diese Maske starre und mich frage, was Sie wirklich denken.“
Sie schaute den leeren Korridor hinunter, bevor sie die Maske ablegte, den Kopf hob und seinem Blick begegnete.
„Ja, das ist viel besser. Sie sind sehr hübsch, wissen Sie das?“
„Ich wusste nicht, dass Sie auch noch schlecht sehen“, entgegnete sie keck. „Ich bin nicht hübsch, das wissen Sie genau. Ich sehe durchschnittlich aus mit meinen langweiligen braunen Haaren und Augen.“
Er wirkte verdutzt, dann lachte er. „Es gefällt mir, dass Sie kaum einzuschüchtern sind, Lady Miranda. Meine Augen sehen sogar ausgesprochen scharf. Haben Sie es denn wirklich nötig, nach Komplimenten zu fischen? Ich könnte mir denken, dass es Ihnen nicht daran mangelt.“
„Sie irren, Mylord. Ich gelte als unscheinbar und alltäglich. Das einzig Bemerkenswerte an meiner Person ist die Tatsache, dass ich gesellschaftlich in Ungnade gefallen bin. Und das ist wohl kaum als Vorzug zu bezeichnen.“
Er sah sie sehr lange an, und sie empfand seinen Blick wie eine Berührung, die von ihrem brünetten Haar über ihr Gesicht glitt, den schlanken Hals, weiter zu ihrem Busen, ihrer Taille bis zu den Füßen und wieder nach oben. Eine zimperliche Frau wäre unter seiner Musterung scheu errötet, Miranda indes hielt seinem Blick gelassen stand. Dann lächelte er.
„Eines Tages“, murmelte er, „erzähle ich Ihnen etwas über Ihre Person. Aber dies ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.“
Sie öffnete den Mund zu einer Entgegnung, als ein dumpfer Schlag gegen die Wand eines gegenüberliegenden Zimmers hörbar wurde. Lord Rochdales Stirn umwölkte sich.
„Was war das?“, flüsterte sie.
„Eine plumpe Maus“, knurrte er. Am Ende des Flurs tauchte ein zweites angetrunkenes Pärchen auf, dem er so finster entgegenstarrte, dass die beiden verschreckt die Flucht ergriffen. Das alles geschah so schnell, dass Miranda nicht rasch genug ihre Maske aufsetzte und nur hoffen konnte, nicht erkannt worden zu sein.
„Eine plumpe Maus“, wiederholte sie trocken. Offenbar spielte er den Wachtposten für einen Freund, der sich mit einer heimlichen Liebschaft in einem Schlafzimmer vergnügte. Aber Rochdale hatte behauptet, er habe keine Freunde. Und er war kaum der Typ, der einem Bekannten einen Gefallen erwies.
„Ein unvorsichtige, plumpe Maus“, sagte er und lehnte sich zurück. „Eine Maus, die sich besser beeilen sollte. Aber lassen wir das. Erzählen Sie mir ein wenig von Ihrer Familie. Wie ich höre, haben Sie Brüder. Auch eine Schwester?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nur drei Brüder. Benedick ist der älteste und Erbe des Titels. Seine Gemahlin erwartet ihr zweites Kind. Charles, der Mittlere, ist kürzlich mit seiner frisch angetrauten Frau aus Italien zurückgekehrt. Und mein jüngerer Bruder Brandon, den ich sehr liebe, hält sich momentan mit dem Rest der Familie in Yorkshire auf. Nach seiner
Weitere Kostenlose Bücher