Zeit der Idioten
irgendwas und in ihren Gehirnen wird das gefiltert und mit einer Bedeutung versehen, die einem selbst völlig fremd ist. Da ist sie wieder, diese Kluft! Und dann reagieren sie und du kennst dich überhaupt nicht mehr aus, redest aber weiter und alles wird immer schlimmer, weil du die Kontrolle verlierst. Oder, das Schlimmste, du weißt gar nicht mehr, was du sagen sollst, und sie verlieren das Interesse an dir. Zugegeben, mit Johanna ist das anders, aber wisst ihr, eigentlich telefoniere ich lieber mit Frauen. Zumindest dann, wenn es persönlich wird. Und jetzt ist diese Phase, wo’s richtig persönlich wird, oder?
»Hallo, wie geht’s dir?«, sage ich gespielt neutral.
»Gut, danke. Und dir?«
»Naja. Meine Eltern sind da und alle sind irgendwie am Durchdrehen.«
»Verstehe. Hast du kurz Zeit?«
»Ja, sicher. Fühlst du dich wirklich gut heute?«
»Jaja, alles in Ordnung. Äh, also …«
»Ja?«
»Ach nein, vergiss es …«
»He, was ist? Sag schon.«
»Nein, nicht am Telefon …«
»Warum nicht?«
»Nein, ich weiß auch nicht … können wir uns sehen? Heute Abend?«
»Ja, sicher, kein Problem, aber ich würde es gerne
jetzt
hören, ich meine, möglicherweise ist es genau das, was ich jetzt nötig habe, verstehst du?«
»Ich glaube nicht.«
»Okay, Johanna. Hör zu! Ich glaube – nein, ich weiß … mein Gott, gestern, das ist sehr schön gewesen, und … ich bin … Jessasmarandjosef, ich hab mich in dich verliebt!«
Sie hängt auf.
Na toll. So viel zum Thema »Genau das, was ich jetzt nötig habe«.
Dann läutet das Handy wieder. Sie weint.
»Was ist los, warum weinst du?«
Keine Antwort, nur Schluchzen.
»Hab ich was Falsches gesagt?«
Nichts, nur verzweifeltes Gesabbere.
»Äh, soll ich zu dir kommen, kann ich dir helfen?«
Sie schluckt, das heißt, sie reißt sich jetzt zusammen. Seht ihr, am Telefon hab ich das ganz gut im Griff.
»Was wolltest du mir sagen, Johanna?«
»Es tut mir so leid, Cornelius.«
»Das ist es? Es tut dir
leid
?«
»Nein, ich … ich habe mich auch verliebt«, stammelt sie.
Ich kann ihre Tränen beinahe schmecken.
»Na dann ist ja alles gut, oder? Es sei denn, du hast dich in den Firngruber Hansi verliebt …«, versuche ich das eigenartige Eis in der Leitung zu brechen.
»Nein. Es ist Bob.«
»Oh. Bob. Naja, ich steh auch auf Dylan.«
Ich lege auf.
Ich würde jetzt sehr gerne zu Sarah gehen, mir mit ihr einen Film ansehen,
Nemo
oder so was, und einfach nur dasitzen und mich wie ein Vater fühlen. Oder wie ein Mensch. Aber das Haus ist voll, Sarah macht mich für die Szene von vorhin verantwortlich, und Filme schaut sie sich ab jetzt wahrscheinlich mit ihrem Freund an. Also bleibe ich hier oben und fühle mich wie ein Arschloch. Ich nehme die Gitarre und spiele einen G-moll-Akkord. Nichts. Ich denke an den Gstettner Franz, der sich bemüht hat, so unglücklich wie nur möglich zu sein, weil die Idioten sagen, dass echte Kunst nur aus dem Leiden entstehen kann. Aber wenn du ganz unten bist, dann weißt du, dass dort nicht das geringste Anzeichen von Kunst auf dich wartet. Da ist nämlich
nichts
. Nicht einmal mehr schwarze Leere. Schwarze Leere ist
etwas
. Schwarze Leere kann etwas bedeuten, Schwerelosigkeit vielleicht, oder Ruhe. Aber was dahinter kommt, ist gefährlich. Es schaltet deine Vernunft völlig aus und lässt dich Wahnsinniges tun. Das glaube ich zumindest. Oder nein, ich fühle es. Aber ich bin noch nicht dort gewesen. Ich bin noch nicht ganz unten angelangt. Irgendetwas ist da noch.
Ich lege die Gitarre zur Seite, wechsle sie gegen einen Bleistift und ein Stück Papier und schreibe eine weitere sinnlose Strophe eines weiteren sinnlosen Songs:
Dies ist die Zeit der Idioten,
der hunderttausend Toten,
von deinem Nachbarn abgesandten
Suizidpiloten
.
Der siebente Anschlag
Es klingt jetzt vielleicht blöd, aber dieser Typ hat aus Liebe gehandelt. Ist ja weder was Neues noch was Besonderes, dass einer sich aus Liebeskummer vom Dach stürzt oder sich Steine umbindet und ins Wasser geht, aber heutzutage ist die Verlockung anscheinend groß, gleich ein paar andere mitzunehmen. Und dafür braucht es nicht dieses gefährliche Nichts, versteht ihr? Es laufen Unmengen von Idioten herum, für die der Wahnsinn Alltag ist. Und das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Leute Kultur mit Wirtschaft und wirklich gute Songs mit hirnloser, dumpfer und unorigineller Massenstangenware verwechseln. Aber darauf komme ich später zurück. Ein paar von denen,
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