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Zeit der Idioten

Zeit der Idioten

Titel: Zeit der Idioten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Moshammer
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seitdem sie mich kennt. Wie’s aussieht, ist sie zu allen besonders, nur nicht zu mir. Aber ist Sarah nicht entzückend? Ich meine, sie macht sich Sorgen. Interessiert sich für meine Gedanken. Ich habe vergessen, wie einfach die Dinge scheinen, wenn man jung ist. Das habe ich vergessen und bin doch erst fünfunddreißig! Jessas. Sitze hier allein an einem Sonntag, trinke Kaffee und werde von meiner Tochter, die nicht einmal meine Tochter ist, bemitleidet. Wäre ich normal, und dabei denke ich ganz realistisch an die Böllinger Version von Normalität, würde ich am Sonntag zum Fußballplatz gehen, in die Kirche oder meine Familie besuchen. Aber nach dem gestrigen Tag kann mir meine Familie gestohlen bleiben und Fußball hat mich noch nie interessiert. Also gehe ich zur Kirche.
    Die Böllinger Kirche erinnert in ihrer Unregelmäßigkeit und Schlichtheit an die romantischen Legenden des anfänglichen Christentums, als ob ein paar Männer sie mit ihren bloßen Händen zu Ehren des Herrn und Erlösers erbaut hätten, allein, um ihrem felsenfesten Glauben ein Manifest für die Ewigkeit zu verschaffen. Sie ist klein, weiß, ziemlich schief und immer offen. In jedem anderen Dorf dieser Größe steht ein mächtiges Riesending oder ein moderner Kubus mit Kreuz drauf oder so. Bei uns wirkt die Kirche mehr wie eine große Kapelle und genau das macht ihren Charme aus.
    Ich weiß, was Sarah meint. Und ich finde es bemerkenswert, dass sie das in ihrem Alter wahrnimmt. Das Andächtige, hat sie gesagt. Die Stille einer Kirche ist wirklich fesselnd. Einmal abgesehen davon, dass mich mit dem Geruch von feuchten Steinmauern und kaltem Weihrauch gleich ein ganzer Schwarm von Erinnerungen befällt. Aber die gehören nicht hierher. Na gut, eine vielleicht, aber nur, weil ich gerade den Kreuzweg sehe. Ich weiß ja nicht, ob ihr katholisch seid, aber es gibt da in der Osterzeit ein Ritual: die Kreuzwegandacht. In jeder Kirche hängen diese vierzehn Bilder, die die Stationen der Passion zeigen, von der Verurteilung bis hin zur Auferstehung. Eine nicht gerade erbauliche Ausstellung, aber ein beliebtes Synonym für das Leben, den Tod, die Erlösung – für alles eigentlich, und wenn ich mir das jetzt so anschaue, finde ich es recht gut getroffen, wenn auch der Böllinger Künstler etwas fragwürdige Vorstellungen vom menschlichen Körper gehabt haben dürfte. Die Extremitäten des Herrn sind, sagen wir, überdurchschnittlich ausgeprägt, aber vielleicht wollte er damit nur seine Größe und Besonderheit ausdrücken. Ist ja auch egal, jedenfalls kann ich die Bedeutung des Kreuzweges jetzt verstehen. Und es ist interessant, dass ich heute hier bin, nachdem ich gestern von der Erniedrigung geschrieben habe, denn der Kreuzweg ist das definitive Protokoll der Erniedrigung.
    Als ahnungsloser Ministrant musste ich bei unzähligen Andachten meinen langweiligen Dienst verrichten, ein großes Kreuz oder den Weihrauchkessel tragend von einer Station zur nächsten wandern, niederknien und beten. In der Karwoche war täglich Dienst. Zuerst der Palmsonntag, die nächsten drei Tage wurde geprobt und dann ging’s los: Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag, die Osternacht, Ostersonntag, Ostermontag – jeden Tag zwei Stunden lange Messen, was soll ein junger Mensch daran toll finden? Aber abgesehen davon war es eine gute Vorbereitung auf das Showbusiness, denke ich.
    Nach Ostern war der Leichnam des Herrn Jesus, eine liegende, lebensgroße, weiße Skulptur, dann in einer kleinen Kapelle innerhalb des Pfarrhauses aufgebahrt, und wir Ministranten mussten dort Wache halten. Den ganzen Tag über wechselten wir uns im Zweistundentakt ab. Der Gekreuzigte durfte keine Minute aus den Augen gelassen werden. Und wir haben das, glaube ich, nicht einmal in Frage gestellt. Was soll ein Kind auch dagegenhalten, wenn es mit irdischem Leiden, Mord, Tod und jenseitiger Erlösung konfrontiert wird? Und bei einem dieser Wachdienste ist es passiert:
    Ich kniete meine zwei Stunden links vor dem Leichnam ab. Dann kippte ich nach hinten und fiel ohnmächtig auf meinen Hinterkopf. Es dauerte nur eine Minute, haben sie mir später gesagt, nichts weiter. Den Rest meiner Wache durfte ich sitzen. Die alten Frauen, die uns Gesellschaft geleistet haben, waren selbstverständlich von meinem Durchhaltevermögen sehr angetan. Wäre ich ein Idiot, könnte ich jetzt behaupten, dass dieser Zwischenfall eine mystische Erfahrung gewesen ist – bin ich aber nicht. Andererseits ist mir auch

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