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Zeit der Idioten

Zeit der Idioten

Titel: Zeit der Idioten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Moshammer
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Dylan erschienen, also bin ich entweder ein Idiot oder werde tatsächlich von Visionen heimgesucht … So, das war’s, ich hör schon auf – ich hab ja gesagt, das gehört nicht hierher.
    Das Denken und Erinnern hat mich jetzt abgelenkt und ruhig gemacht. Ich überlege kurz, ob ich zum Schotterteich runtergehen und den Freund einmal unter die Lupe nehmen soll, aber nein, daraus würde wieder nur eine weitere peinliche Situation entstehen. Ich bleibe einfach noch ein bisschen hier sitzen. Keine Ahnung, ob es nur die Sicherheit des Bekannten und Gewohnten ist, die mich besänftigt, oder die Tatsache, dass ich hier wirklich allein bin. Egal, ich blicke nach oben. Ich sitze genau unter der sechsten Station des Kreuzweges:
Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
.
    Jessasmarandjosef. Meine Veronika hat mir ihr Schweißtuch gezeigt und dann den Dornenkranz aufgesetzt.

9. ROCK’N’ROLL PT. 2
    Der Mann, der überlebt hat.
    Dienstag, 19 Uhr 30. Ich sitze in meiner Garderobe. Einer Künstlergarderobe. Allein. Draußen tobt die Masse. Wirklich!
    Gestern hat mich ein alter Bekannter aus Wien angerufen. Er arbeitet bei einer Plattenfirma, einem blöden Major Label. Egal, jedenfalls haben sie Christina Stürmer unter Vertrag, und die spielt heute im Wiener Gasometer ein Benefizkonzert für die Wiener Schulen. Trotz der politisch brisanten Situation, wie sie in ihrer Pressekonferenz verlautbarte. Sie stünde hinter ihren Fans und wollte ihren Auftritt als Metapher für Frieden, Zusammenhalt und Stärke verstanden wissen. Na dann. Ob ihr es glaubt oder nicht, er hat mir tatsächlich angeboten, die Stürmer zu supporten. Er könne mir zwanzig Minuten geben, in denen ich allein mit meiner Gitarre spielen könnte, was ich will. Der geplante
support act
sei ausgefallen. Ich musste mich sofort entscheiden. Ich habe natürlich zugesagt, meine metaphorischen Hosen voll und Sarah glücklich gemacht, weil ich ihr einen Backstagepass versprochen habe. Ich meine, Christina Stürmer – kennt ihr die? Wenn ihr Kinder habt, dann sicher.
    Ein Mädchen, das keine Ahnung von Rock’n’Roll hat, aber vor ausverkauften Häusern spielt. Und ihre Band besteht aus richtigen Posern, die laute, saubere Gitarrenpopmusik für Kinder machen, selbstverständlich sehr beeinflusst von, sagen wir, der Ästhetik der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. All diese jungen Bands machen das jetzt so: Ein bisschen Talking Heads, ein Hauch Bowie, eine Prise Clash oder was weiß ich. Das ist ein einfaches, blödsinniges Rezept. Völlig perverses, unoriginelles, der momentanen Definition von Popkultur entsprechendes Gedudel. Im Fernsehen haben sie letztens eine Band vorgestellt, ein paar deutsche Idioten, die anscheinend aussehen wollen wie die Kinks, nur dass sie ihr vornehmes Elternhaus nicht von ihren Gesichtern abstreifen können. Die haben ihre faden, radiogenormten, echt schlechten Songs tatsächlich mit
Politisch Existentieller Realismus
umschrieben. Solche Typen werden doch nur Musiker, weil sie schön und durchschnittlich talentiert sind und so schnell wie möglich reich werden wollen, Jessasmarandjosef!
    Ich prophezeie euch, und sagt ja nicht, ich hätte euch nicht gewarnt, als Nächstes sind wieder einmal die Sechziger dran. Zum wievielten Mal eigentlich? Oder nein, die Fünfziger, so richtig konservativ und romantisch. Die Major Labels haben sicher schon ihre Strategien in den Schreibtischladen geordnet. Erst ein paar Jahre lang gute, alte, schöne Musik fürs Herz und fürs schwiegermütterliche Gemüt und dann wieder richtig dreckige Rockbands, die der Gesellschaft ordentlich in die Eier treten.
    Ich bin wirklich der Meinung, dass dieser kulturelle Zustand Selbstmordattentäter heranzüchtet. All diese jungen Leute werden sich rächen, davon bin ich überzeugt. Sie werden irgendwann das Spiel durchschauen, die wunden Punkte im System eruieren und zuschlagen. Sie werden uns alle hassen, weil wir ihnen nicht erklärt haben, dass sie ausgenutzt werden. Sie werden uns anklagen, an den Pranger stellen, uns der Lüge und der Mittäterschaft beschuldigen, und das zurecht.
    Wo war ich? Ach ja, Christina Stürmer. Also, Sarah liebt dieses Mädchen. In ihrem Zimmer hängen Posters von ihr, und alles, was sie macht, sagt oder singt, ist cool. Sicher, ich bin fünfunddreißig, aber ich kann mir nicht helfen, Iggy war cooler. Er ist es immer noch.
    Ich habe die ganze Nacht an einem Pamphlet geschrieben, das ich heute vorlesen wollte. Ich finde, es ist sehr gut

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