Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
mich noch machen?«
Seine Stimme klang so gequält, dass Mrs. Channing unabsichtlich einen Schritt auf ihn zuging, als wollte sie ihn trösten.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, schrie er sie an, und seine Hand schloss sich fester um Mrs. Ellisons Arm. Sie zuckte vor Schmerz zusammen, schrie aber nicht auf.
Mrs. Channing wich zurück. »Ich wollte Sie nicht …« Dann verstummte sie und sah Rutledge Hilfe suchend an.
»Warum sind Sie ein Toter?«, fragte Rutledge. Die Entfernung zwischen ihnen war zu groß. Bis er Keating erreicht und ihn niedergerungen hätte, würde das Messer längst in Mary Ellisons Kehle stecken. Daher griff er auf Worte zurück, um Keating sein Vorhaben auszureden.
Der Pfarrer hatte ihn als guten Zuhörer bezeichnet. Jetzt würde es einzig und allein auf seine Worte ankommen. Sie würden die Sachlage grundlegend ändern müssen, wie Hamish ihm emsig ins Gedächtnis rief. Es kam darauf an, diese Worte mit Sorgfalt zu wählen.
Keating schüttelte den Kopf, denn er war nicht gewillt, sich in Rutledges Falle locken zu lassen.
Mary Ellison machte zum ersten Mal den Mund auf. »Dieser Mann«, sagte sie, und selbst Keating schien wahrzunehmen, dass ihre Stimme vor Abscheu triefte, »dieser Mann hängt dem Irrglauben an, mein Schwiegersohn zu sein. Mr. Mason, Emmas Vater.«
Auf diese Erklärung folgte betroffenes Schweigen. Mrs. Channing gab einen kleinen Laut von sich, in dem sich Mitleid mit Erstaunen vermischte.
Hamish sagte: »Das kann nicht wahr sein. Er ist an einem Tumor gestorben.«
Aber so vieles von dem, was Mary Ellison allen erzählt hatte, war gelogen.
»Sind Sie Frank K. Mason?«, fragte Rutledge.
Er sprach den Namen mit einer solchen Autorität aus, als besäße er Hintergrundinformationen, um seine Behauptung zu stützen.
»Sie haben sich in London nach mir erkundigt, stimmt’s? Der Teufel soll Sie holen, Sie verdammter Mistkerl! Ich habe meine Strafe abgesessen. Es ist mein Recht, mein Leben so zu führen, wie es mir passt!«
Es begann plausibel zu klingen. Rutledge warf einen Seitenblick auf Mrs. Channing und sagte dann zu Keating: »Kann sie jetzt gehen? Je weniger sie weiß, desto besser.«
»Damit sie Hilfe holt, sowie sie zur Tür hinaus ist? Sie ist aus freien Stücken hergekommen, ich habe sie nicht in diese Geschichte hineingezogen. Aber jetzt muss sie bleiben.«
»Dann lassen Sie uns wenigstens ins Esszimmer gehen, damit die Frauen sich hinsetzen können. Mrs. Ellison sieht aus, als bräche sie jeden Moment zusammen.«
»Na und? Soll sie doch zusammenbrechen!« Die Worte kamen grimmig heraus. Dann sagte er: »Ich war nicht schuldig. Aber ich konnte es nicht beweisen. Ich habe mich auf der Suche nach Arbeit herumgetrieben, und ein Mann hat mir dreißig Pfund versprochen, wenn ich ihm dabei helfe, in ein Geschäft einzubrechen. Ich wollte nichts davon wissen. Ich hatte Familie, ich wollte nichts damit zu tun haben, Geld hin, Geld her. Aber als er zur Verhandlung erschien, hat er vor Gericht ausgesagt, ich hätte das Verbrechen geplant und es ausgeführt. Er sei gegen seinen Willen überredet worden, mir zu helfen.«
»Weshalb hätten die Geschworenen ihm das glauben sollen?«
»Ich war Schlosser«, sagte er mit ungekünsteltem Stolz. »Und noch dazu ein guter. Er war bis dahin noch nie erwischt worden,
das ist wahr. Er war zu vorsichtig. Und er konnte sich gut ausdrücken, wie ein Gentleman. Man hat mir berichtet, im Zeugenstand wäre er beinah in Tränen ausgebrochen, aus Scham darüber, wie er so etwas tun konnte. Und diese zwölf Mistkerle auf der Geschworenenbank haben ihm geglaubt. Er wurde freigesprochen. Und ich wurde festgenommen und ins Gefängnis geschickt, und meine Familie stand mittellos da. Beatrice wäre niemals nach Dudlington zurückgekehrt, wenn ich da gewesen wäre, um sie und das Kind zu ernähren.«
Ein Schlosser hatte die Tochter einer Frau geheiratet, in deren Adern das Blut der Harkness’ floss. Es musste ein gewaltiger Abstieg für Mary Ellison gewesen sein, als sie erfahren hatte, dass ihre Tochter, die mit so großen Erwartungen nach London gegangen war, einen Mann aus der Arbeiterklasse geheiratet hatte. Kein Wunder, dass sie aller Welt erzählt hatte, er sei gestorben. Kein Wunder, dass sie Emma aufgenommen und dafür gesorgt hatte, dass die Tochter, die sie derart enttäuscht hatte, nicht nach London zurückkehrte, um ihr schändliches Leben weiterzuführen. Oder noch schlimmer - sie hätte ihren arbeitslosen Mann nach dessen
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