Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, bevor er die Treppe wieder hinunterstieg und sich in die Bar begab.
Dort war niemand. Dennoch ließ er den Schein seiner Taschenlampe durch den Raum gleiten, hinter den Tresen und in
die dunklen Ecken. Auf einem der Tische stand eine nahezu leere Whiskeyflasche und daneben ein Glas, das so viele Ringe auf der Tischplatte hinterlassen hatte, als hätte Keating gegen Ende unachtsam eingeschenkt.
Von dort aus machte er sich an die methodische Durchsuchung des Hauses und begann mit den Räumen, die für Gäste zugänglich waren, erst der behaglichere Nebenraum der Bar, dann das kleine Gesellschaftszimmer, in dem er sich mit Mrs. Channing unterhalten hatte, das Esszimmer mit den frischen Tischdecken und gefalteten Servietten, deren Kanten fast so scharf wie Rasiermesser aussahen.
Die Küche war erstaunlich sauber und ordentlich, Töpfe und Pfannen standen auf einem Beistelltisch bereit, die Arbeitsflächen waren gründlich geschrubbt, das Geschirr nach Größe gestapelt und jederzeit greifbar. Er ließ den Lichtschein weitergleiten und neben einem Schrank fand er eine Schublade, die umgestülpt auf dem Fußboden lag. Der Inhalt war verstreut, als hätte jemand mit Tritten nach einem Gegenstand gesucht.
Hamish sagte: »Besteck.«
Die Klingen funkelten im Schein der Taschenlampe, die Griffe aus Holz und Horn waren vom häufigen Gebrauch matt geworden.
Messer jeder Art und jeder Größe, die Klingen scharf genug, um durch Haut und Muskeln und sogar Knochen zu schneiden.
»Du weißt nicht, was fehlt.«
»Nein. Er muss die Schublade wutentbrannt rausgezogen und den Inhalt ausgeschüttet haben. Dann hat er sich genommen, was er wollte, und den Rest liegen lassen.«
Falls es sich um Sandridge handelte und er glaubte, der sterbende Hensley könnte ihn verraten haben, dann bestand immerhin die Möglichkeit, dass er beschlossen hatte, sich lieber umzubringen als wieder ins Gefängnis zu gehen, diesmal, um gehängt zu werden.
Die Frage war nur, wo er es tun würde.
Rutledge sprang jeweils zwei Stufen auf einmal hinauf, ohne den scharfen Schmerz in seinem Knöchel zu beachten. In dieser Etage gab es vier Schlafzimmer, eines davon war Mrs. Channings. Er durchsuchte die anderen und stieg dann eine weitere Treppe zu den früheren Dienstbotenunterkünften hinauf. Sowie diese Etage abgehakt war, begab er sich in die Räume hinter der Küche, wo das Personal seine Mahlzeiten einnahm. Dahinter befanden sich Aufenthaltsräume für das weibliche und das männliche Personal, das man offenbar zu der Zeit, als das heutige Oaks erbaut worden war, so strikt voneinander trennte wie in einem Kloster.
Eines dieser Zimmer war in ein Schlafzimmer umgewandelt worden, fast so asketisch wie die Zelle eines Mönchs. Das eiserne Bettgestell war aus einem Dienstbotenzimmer heruntergetragen worden, daneben stand ein Nachttisch und ansonsten gab es zwei Stühle, einen kleinen Tisch und einen schäbigen Teppich auf dem Boden. Was früher einmal Fächer gewesen waren, in denen die Dienstboten ihre Mäntel aufbewahrten, diente heute als Keatings Kleiderschrank.
Er besaß herzlich wenig Kleidung und nur ein guter Anzug war darunter. Rutledge schloss den Schrank und wandte sich dem Tisch zu, der als Schreibtisch diente. Darauf lagen pedantisch genau geführte Geschäftsbücher, Quittungen für Lebensmittel und Spirituosen und in einer Schachtel Menüs und Rezepte für diverse Gerichte.
Er hatte den Lichtstrahl bereits auf den Nachttisch gleiten lassen, als ihm aufging, dass er gerade seine eigene Handschrift gesehen hatte …
Er ging um den Tisch herum und sah noch einmal genau hin, bis er unter den Geschäftsbüchern fand, was er gesucht hatte. Nur eine Ecke schaute heraus. Er hob das Buch hoch und fand eines der Blätter, die er in Hensleys Büro vollgeschrieben hatte. Dort hatte er in allen Einzelheiten die Beweise festgehalten, die er gegen Mary Ellison vorliegen hatte. Das Blatt wies
Wasserflecken und rußgeschwärzte Fingerabdrücke auf, als hätte es jemand nach dem gestrigen Brand an sich gebracht und erst dann bemerkt, was darauf geschrieben stand. Mehrere unregelmäßige Knicke zeigten, dass das Blatt hastig zusammengefaltet und in eine Tasche gesteckt worden war.
So war es also hierhergelangt. Bevor er sich überlegen konnte, warum und was das nach sich zog, hörte er am Empfang eine Stimme, die seinen Namen rief.
Mit schnellen Schritten erreichte er das Foyer, und im Schein seiner Taschenlampe sah
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