Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
hielt Baylor die Tür auf und folgte ihm ins Haus und die Treppe hinauf. »Ihr Bruder hat sein Leben so geführt, ob zu Recht oder zu Unrecht, wie er es für richtig gehalten hat. Trotzdem fühlen Sie sich ihm durch die Blutsverwandtschaft verpflichtet und halten zu ihm. Das ist bewundernswert. Aber von Barbara Melford sollte man nicht erwarten, dass auch sie für seine Sünden büßt.«
Der Mann, der vor ihm herlief, sagte leise: »Nein, ich werde dafür sorgen, dass sie nicht dafür büßen muss.«
Von Joel Baylors Fenstern sah man auf die Ställe und auf Frith’s Wood. Er schlief nicht. Stattdessen saß er auf einem Stuhl und rang mit verätzter Lunge mühsam nach Luft. Das Geräusch seiner Anstrengungen erfüllte den Raum. Früher einmal war er kräftig gewesen und hatte gut ausgesehen. Jetzt hingen die Kleidungsstücke lose an seiner schmalen Gestalt, und sein Gesicht war vom Leiden gezeichnet.
»Hensley ist tot«, sagte Rutledge, als er eintrat. »Ich habe es gerade gehört.«
»Hat er vor seinem Tod geredet?« Die Frage wurde vorsichtig und doch resigniert gestellt.
»Nein. Er war bis zu seinem letzten Atemzug loyal.«
»Ist das die reine Wahrheit?«
»Haben Sie mit Pfeil und Bogen auf ihn geschossen?«
»Wahrscheinlich hätte ich es getan, wenn ich es geschafft hätte, bis zum Wäldchen zu laufen. Er hat mir das Gefühl gegeben, in meinem eigenen Haus ein Gefangener zu sein.«
»Vielleicht möchten Sie mir erzählen, was in London vorgefallen ist. Der einzige anwesende Zeuge ist Ihr eigener Bruder. Mein Wort stünde gegen seines.«
»Sie interessiert doch überhaupt nicht, was Edgerton zugestoßen ist. Sie kannten den Mann nicht. Sie wollen Beweise, sonst gar nichts. Gegen Chief Superintendent Bowles.«
»Falls er etwas mit dem Brand zu tun hatte, selbst dann, wenn er nicht wissen konnte, was passieren würde, muss etwas geschehen. Edgerton hatte Familie, seine Verwandten haben eine Antwort verdient.«
Joel Baylor wandte den Kopf ab, um aus dem Fenster zu sehen. »Wenn ich hiergeblieben wäre und geholfen hätte, den Bauernhof zu betreiben, dann wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Aber ich war habgierig.« Seine Worte wurden durch seine Kurzatmigkeit unterbrochen, und sein Rücken krümmte sich vor Anstrengung. »Ich bin nicht als Bauer aufgewachsen, das ist das Ärgerliche.«
»Sie können manches wiedergutmachen. Sogar jetzt noch. Indem Sie mir erzählen, was passiert ist.«
Er wandte sich wieder zu Rutledge um. »Ich weiß es nicht«, sagte er, und es war schwer zu beurteilen, ob er log oder die Wahrheit sagte. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was zwischen Hensley und Bowles war. Es ist durchaus möglich, dass es gar nichts mit dem Brand zu tun hatte. Ich habe das Feuer gelegt, Hensley hat weggeschaut. Barstow hat geschworen, kein Mensch würde sich in dem Gebäude aufhalten. Trotzdem ist ein Mann gestorben. Ich bin für mein Schweigen bezahlt worden und Hensley für seines. In mehr war ich nicht eingeweiht. Und das war schlimm genug. Ich habe Hensley nie gefragt, wer
sonst noch mit der Sache zu tun hatte. Sie hätten es tun sollen.«
Aber Hensley war tot.
Joel begann zu husten und erstickte fast an der Flüssigkeit in seiner Lunge. Es dauerte eine Weile, bevor er wieder in der Lage war, Luft zu holen. Sein Bruder hatte recht. Der Mann würde die Gerichtsverhandlung nicht erleben.
Hamish sagte: »Er wird dir nicht helfen.«
Aber Rutledge war noch nicht bereit aufzugeben. »Wenn Sie es sich anders überlegen, brauchen Sie mich nur zu verständigen. Nicht im Yard. Es ist besser, wenn Sie mir eine Nachricht in meine Wohnung schicken.«
Joel Baylor schüttelte ablehnend den Kopf. »Sonst nichts«, keuchte er.
Rutledge war schon auf halbem Wege zur Tür, als Ted Baylor ihn leise drängte, seinen Bruder in Ruhe zu lassen. Mitten im Zimmer blieb er stehen und drehte sich abrupt um.
»Hat Hensley Ihnen jemals erzählt, dass dieses Mädchen, das Sie in London kannten, geschrieben hat, um sich zu erkundigen, was aus Ihnen geworden ist? Eine Miss Gregory, wenn ich mich recht erinnere.«
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung auf Joel Baylor nicht. »Nein. Ich dachte - nein, dieser verfluchte Kerl, kein Wort hat er mir davon gesagt!«
»So viel zum Thema Loyalität«, erwiderte Rutledge und verließ das Zimmer.
Es war schon kurz vor sieben, als Rutledge und Mrs. Channing dahin fuhren, wo er seinen Wagen abgestellt hatte.
Rutledge war überrascht, ihn noch dort vorzufinden. Er sah das Blut
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