Zeit der Sinnlichkeit
daran und an die stille Resignation, die dabei in seiner Stimme geschwungen hatte, mußte ich seufzen.
Diese Augenblicke werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen: Man läßt mich nicht in der Steingalerie warten. Ich werde sofort in die königlichen Gemächer geführt, als ich mich bei den Wachen melde.
Ich betrete die vertrauten Räume. Obwohl es ein drückendwarmer Abend ist, brennt im Kamin der ersten Kammer ein Feuer.
William Chiffinch, des Königs getreuester Diener, verneigt sich vor mir und teilt mir mit, daß Seine Majestät aus einer Laune heraus plötzlich sehr hungrig gewesen sei und schon mit dem Abendessen angefangen habe, das in dem kleinen Zimmer, in dem die Uhren aufbewahrt werden, serviert worden sei.
Ich folge Chiffinch, und als wir uns dem Raum nähern, der nicht größer als ein Kabinett ist, höre ich wieder einmal das wilde Ticken und Schlagen der Zeit, was den König so fasziniert und bewegt.
Ich gehe hinein. Der König trägt einen cremefarbenen Rock, doch um seinen Hals ist eine scharlachrote Tafelserviette gebunden.
Obgleich ich schwitze und der Schlag meines Herzens es mit dem der lautesten der Uhren aufnehmen kann, muß ich lächeln, als ich die Serviette sehe. So kommt es, daß der Kö
nig, als er von der Hühnerkeule, die er gerade verschlingt, aufsieht, als erstes mein Lächeln sieht. Und dieses Lächeln scheint eine magische Kraft auf ihn auszuüben, denn er legt sein Hühnerbein auf den Teller und starrt mich an, und es ist das Starren eines Verzauberten. Er führt die Serviette an den Mund und wischt sich die Lippen ab, ohne dabei die Augen von mir zu wenden.
Ich verbeuge mich sehr tief, wobei ich den Hut mit einer ausladenden Bewegung ziehe, und als ich aus dieser Verneigung wieder hochkomme, sehe ich, daß Seine Majestät aufgestanden ist und den kleinen Tisch, auf dem das Abendessen steht, verlassen hat und jetzt auf mich zukommt. Ich höre, wie Chiffinch hinter mir die Tür schließt.
Der König bleibt stehen, kaum mehr als einen halben Schritt von mir entfernt. Er streckt eine unbehandschuhte Hand aus, legt sie unter mein Kinn und hebt mein Gesicht an, anscheinend um jede einzelne Falte darin, jede Pore, ja sogar die Form der darunterliegenden Knochen zu untersuchen, so durchdringend schaut er mir ins Gesicht. Dann schüttelt er den Kopf, als bereite ihm etwas großen Kummer, und dennoch breitet sich über seinem Gesicht ein Lächeln von so unendlicher Freundlichkeit aus, daß ich augenblicklich weiß, daß nicht die geringste Spur seines Zorns auf mich geblieben ist und daß er, selbst wenn sich schon am morgigen Tag seine Laune wieder gegen mich wenden sollte, an diesem Abend des 2. September 1666 jedenfalls nur Zuneigung für mich empfindet.
Ich beginne zu sprechen. »Sir …«, stammle ich, »ich freue mich sehr, Euch bei guter Gesundheit anzutreffen …«
»Pst, Merivel«, befiehlt der König, »sagt nichts. Ihr wißt doch, daß ich alles sehe und alles verstehe. N'est-ce pas? «
»Ja, Sir.«
»Also!«
Er lacht, zieht mein Gesicht an seines heran und gibt mir einen schmatzenden Kuß auf den Mund; dann befiehlt er mir, mich hinzusetzen und zu essen.
»Wir haben ein Picknick«, sagt er. »Ich wollte für uns ein Picknick. Wir dürfen so unordentlich essen, wie wir wollen, fangt also an, Robert, nehmt Euch ein Hühnchen auf den Teller und ein paar Eier, und da ist auch etwas kalter Lachs. Ich habe Chiffinch gesagt, daß er gleich wiederkommen soll, um Euch den Weißwein einzuschenken.«
Ich habe keinen Appetit. Ich sage zum König, daß ich sehr mäßig gelebt habe und mir nicht vorstellen könne, ein ganzes Huhn zu verzehren.
»Nun«, meint er, »das sind Hennen aus Surrey: sehr lärmend, als sie noch lebten, hat man uns gesagt, und mit sehr saftigem Fleisch. Nehmt doch einen kleinen Schenkel und kostet ihn, und Ihr werdet sehen, daß beim Essen der Appetit kommt.«
Ich probiere also einen Schenkel, und das Fleisch gehört wirklich zum Köstlichsten, was ich je gegessen habe. Chiffinch kehrt zurück und gießt mir kalten, fruchtigen Wein ein. Ich trinke ihn langsam und spüre, wie seine Süße in mein Blut tritt, in mir zu kreisen beginnt und mir Ruhe und Gelassenheit gibt. Der Lärm der schlagenden Uhren – es sind mehr als zweihundert – scheint nach einer Weile schwächer zu werden, und auch dem König scheint das aufgefallen zu sein, denn er schaut vom Essen auf und sagt: »Die Zeit ist stehengeblieben und hat auf Euch gewartet,
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