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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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genannt) und sah auf seiner Behelfsstaffelei das Portrait, das er von mir gemalt hatte.
    »Ich nehme an, daß du mich übermalen willst?« fragte ich Finn. »Erst komme ich auf ein Stück Scheinmauerwerk, und jetzt machst du dich daran, mich mit Weiß zu überdecken – ungeachtet der sieben Shilling.«
    »Nein«, sagte er ruhig. »Ganz und gar nicht. Ich habe mein Portrait von dir sehr gern.«
    »Was macht mein Gesicht dann auf der Staffelei?«
    Finn trat zu der Staffelei, nahm mein Portrait herunter und stellte statt dessen das eben vollendete Bild einer Frau darauf, die vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt war und ein Spitzenhäubchen und ein schwarzes Kleid von puritanischer Einfachheit trug.
    »Siehst du?« fragte er. »Die gleiche Pose wie deine. Die gleiche Haltung, die gleiche Konzentration auf die Hände, das gleiche kalte Licht auf dem Gesicht. Schon als ich sie hereinkommen sah, beschloß ich, sie genau so hinzusetzen, wie ich dich hingesetzt hatte. Ich hatte dein Portrait auf der Staffelei, weil ich die beiden Bilder vergleichen wollte.«
    Ich blickte auf die Frau, deren Gesicht Finn gut wiedergegeben hatte. Es war ein sehr freundliches Gesicht, das mich stark an das meiner Mutter erinnerte. Als ich auf ihre Hände schaute, sah ich, daß Finn ihr zwischen Daumen und Zeigefinger eine kleine rotgefärbte Feder gelegt hatte.
    »Wer ist das?« fragte ich.
    »Ich habe ihren Namen vergessen«, antwortete er. »Es ist die Frau eines Kurzwarenhändlers.«
    Ich sah Finn scharf an. Er zuckte mit seinen grünen Schultern, als wollte er sagen: »Das ist alles, was ich weiß.« Dann wandte ich meinen Blick wieder dem Portrait zu. Jetzt fand ich die Ähnlichkeit mit meiner Mutter so auffallend, daß meine Gedanken eine ganz neue Richtung einschlugen: Angenommen, es war meine Mutter? Angenommen, sie war bei dem Brand nicht gestorben? Angenommen, die Frau, die Latimer hatte retten wollen, war nicht meine Mutter, sondern das Dienstmädchen gewesen?
    Ich wußte, daß ich mich in das Reich des Unmöglichen begeben hatte. Ich verließ es, so rasch ich konnte, wieder, fragte mich aber dennoch auf mehr allgemeine, jedoch nicht weniger phantasievolle Weise, warum die Ähnlichkeit so stark war und ob – in einer so von der Mode geknechteten Welt – womöglich doch irgendein Zusammenhang zwischen einer Kurzwarenhandlung und einem freundlichen Wesen, zwischen dem Abmessen von Steifleinwand und einem gütigen Herzen bestand.
    Da ich den ganzen Abend an meine Mutter gedacht hatte, träumte ich in der darauffolgenden Nacht auch von ihr. Sie kam und blickte auf mein Portrait. Dann hob sie die Hand zur Leinwand empor und kratzte daran, bis sie ein Stück meiner Stirn getilgt und die weiße Farbe darunter freigelegt hatte. Sie sagte: »Auf der Oberfläche ist er ein Ganzes, aber darunter ist er mit einem höchst seltsamen, gebrochenen Licht erfüllt.« Ich wachte auf und erinnerte mich der Worte der Weisen Nell, der angeblichen Hexe im Dorf Bidnold, daß ich »tief fallen« würde. Sie hatte nichts darüber gesagt, was nach dem Fallen kommen würde, ja nicht einmal, ob es jemals auf
hören und es überhaupt ein »Danach« geben würde oder ob ich immer weiter und tiefer in die Verwirrung fallen würde.
    Nach einer Weile stand ich auf und zündete eine Kerze an. Dann nahm ich heimlich und verstohlen – als fühlte ich mich von Gesichtern hinter der Fensterscheibe beobachtet, die sich über meine Schwäche lustig machten – Pearces Buch aus dem Regal, holte meinen Brief an den König heraus und las ihn durch. Dann schrieb ich den Namen des Königs darauf, schmolz mit der Kerze etwas Siegelwachs und verschloß ihn. »Es ist nun mal so«, flüsterte ich den anonymen Gesichtern draußen im Dunkeln zu, »daß ich keinen Frieden finde und daß meine Sehnsucht nicht gestillt wird, bevor ich eine Nachricht von ihm habe …«
    Am nächsten Tag lieferte ich den Brief in Whitehall ab und lief eilig wieder weg.
     
    Während ich auf eine Antwort vom König wartete, ging ich, um mich abzulenken, zum Haus des Geldverleihers, um Margaret zu besuchen.
    Sie schlief in ihrer Krippe. Nur ihre schlafenden Augen und ihre flache Nase waren zu sehen, doch ich konnte aus ihrer rosa Gesichtsfarbe und ihrem regelmäßigen Atmen schließen, daß sie nicht kränkelte, und die Amme berichtete mir, daß sie gut sauge und kräftig schreie. »Es spricht alles dafür, daß sie am Leben bleibt, Sir.« Und plötzlich empfand ich eine heftige Freude bei der

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