Zeit der Sternschnuppen
»Nein, Schneewittchen, bleib nur so. Mode hat nur einen Sinn, wenn sie vergleichbar ist. Auf dem sechsten Mond wirst du die einzige Frau sein…«
»Ja, das ist wunderbar, darauf freue ich mich schon«, bemerkte sie zufrieden. »Aber wer ist nun wieder Schneewittchen?«
Ich versetzte ihr einen Nasenstüber. »Wer ist Schneewittchen, wer ist Roswitha, was ist ein heiliger Strohsack? Das alles, kleine Sternschnuppe, sind Begriffe, die nicht in deine fünfte Dimension gehören. Wir wollen sie zurücklassen, es lohnt nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. In neunundzwanzig Stunden gehört alles der Vergangenheit an.«
Das Konzentrat verlängerte die Abschiedsstunden, es schenkte mir eine Nacht. Im Rausch unserer Liebe schien die Zeit stehenzubleiben. Erst die Morgendämmerung offenbarte die Selbsttäuschung. Noch einmal, zum letzten Male, bot sich mir Gelegenheit, von allem Abschied zu nehmen.
Ich war nicht müde, aber nach der stürmischen Nacht des Wiedersehens mit Aul fühlte ich mich auch nicht gerade wie ein Torero. Mit einem Bündel Banknoten in der Tasche trottete ich zur Landstraße, bestellte in der Konsumgaststätte telefonisch ein Taxi und ließ mich in die Stadt fahren. Mich plagten Skrupel und Furcht vor dem Unwiderruflichen, als ich mich unserer Wohnung näherte. Vielleicht, so hoffte ich, ließ sich Johanna überreden, mit nach Manik Maya zu fahren. Dann brauchte ich wenigstens nicht mit einer Lüge von ihr zu gehen. Auch wollte ich ihr einen Teil des Geldes hinterlassen. Mir war, als ich die Treppen hinaufstieg, als ginge ich zu meiner eigenen Beerdigung.
Es war früher Vormittag, als ich läutete. In diesem Augenblick fiel mir ein, daß meine Frau gar nicht zu Hause sein konnte. Sie hatte ja eine Stellung angenommen – wo nur? Ich klopfte bei unserer Nachbarin, Frau Bertram. Als sie die Tür öffnete und mich sah, erstarb ihr das »Guten Morgen« auf den Lippen. Mein Klinikaufenthalt war im Hause bekannt geworden. Ich fragte sie nach der Arbeitsstelle meiner Frau. Frau Bertram bedauerte, sie könne mir die Adresse nicht nennen.
»Aber den Namen der Firma oder des Werkes kennen Sie doch, Frau Bertram…«
Sie verneinte und wollte die Tür schließen. Mich ärgerte ihr albernes Benehmen. Schließlich hatte ich ihr geholfen, wenn etwas aus dem Keller zu holen war. Wütend sagte ich: »Sie sollten sich immer gut einschließen, ich bin nämlich ein Vampir und bevorzuge mit Vorliebe alte Jungfern!«
Als ich auch noch das Grunzen eines Wildschweins nachahmte, knallte sie mit einem Schrei des Entsetzens die Tür zu.
Ich ging hinunter, schlenderte ziellos durch die Straßen. Zwölf, dreizehn Stunden noch, dann war alles vorbei. Es war gewiß nicht Auls Vermögen, was mir den Abschied immer problematischer werden ließ. Um nicht fort zu müssen, wenigstens nicht in so kurzer Zeit, hätte ich mit Freuden auf die Steine und die Banknoten verzichtet. Die Reise ins Unbekannte, der freiwillige Abschied von einem Planeten, der doch eigentlich meine Welt war – dies wurde mir immer deutlicher bewußt –, kam einer Entscheidung über Leben und Tod gleich. Irgendwo in fernen Sphären des Alls existieren, schlafend vielleicht Jahrhunderte überdauern, um am Ende eines rastlosen Fluges neu programmiert zu erwachen, ohne Erinnerung an Gewesenes – was war daran verlockend? Und was tauschte ich dafür ein? Die Wahl schien einfach zu sein. Me bot mir nicht nur eine kluge und begehrenswerte Partnerin, sondern auch einen geschärften Verstand, der ein nie geahntes Wissen zu speichern vermochte. Beinahe kümmerlich mutete an, was ich dafür zu rückließ: Gefühle, die Liebe oder Haß, Unmut oder Zufriedenheit, Trauer oder Freude auslösten; Sorgen und Hoffnungen, erfüllte und unerfüllbare Träume – einfach das Leben.
Einfach das Leben. Wie simpel alles zu sein schien. Zwei Worte, nicht wägbar: das Leben. Ich wollte alles kühl und sachlich durchdenken, doch dazu fehlte mir die Distanz des Me. Mein Spaziergang durch die Stadt erweckte tausend Empfindungen und Erinnerungen. In der ›Quil‹, umgeben von Aul und ihrem Vater und den elektronischen Helfern, wären meine Probleme anachronistisch. Es gäbe sie nicht. Endlos die Zeit, uferlos meine Welt. Hier dagegen hieß Leben etwas ganz anderes, hier war ich Teil eines untrennbaren Ganzen, zu dem Menschen und Tiere und die ganze Vielfalt der wandelbaren Natur gehörten.
Was tun, wie sich entscheiden?
Schneeflocken tanzten herab, gaben dem schon schmutzigen,
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