Zeit der Sternschnuppen
Spenderlaune mißbilligte. Einen Augenblick später umarmte und küßte sie mich, zog mich auf das Sofa. Ich dachte: Jetzt ist es gleich acht Uhr, in spätestens vier Stunden landet der Transporter, du mußt es ihr jetzt sagen…
»Der Winter ist nicht so schön, wie du ihn mir geschildert hast«, sagte sie. »Fritzchen war heute einige Stunden draußen, sollte den Transporter orten, dabei ist ihm das Zentralgehirn eingefroren.«
»Na ja, Fritzchen… Wenn du länger hier wärst, könnte ich dir schon zeigen, wie schön der Winter ist. Aber du sperrst dich gegen alles… Sieh mal, Sternschnuppe, wenn du wenigstens noch zwei, drei Wochen bleiben würdest… Ich könnte dir auch das Pergamon-Museum zeigen. Dort findest du die Zeit deines Vaters wieder – Mumien und so…«
Eine Zeitlang sah sie mich schweigend an. In meiner Bitte war eigentlich alles enthalten, was ich ihr sagen wollte und mußte. Es kam wohl zu überraschend für Aul, denn sie erwiderte nur mit trauriger Stimme: »Mumien – du weißt, daß ich nicht hier bleiben kann.«
Von nebenan drang das Ticken der Kuckucksuhr herein, ab und zu gaben die Hähne ein paar Laute von sich. Unsere Unterhaltung war wie abgeschnitten. Mir war auf einmal heiß geworden. Ahnte Aul, woran ich dachte? Ich nahm ihre Hand. »Sternschnuppchen, ich habe viele Stunden über alles nachgedacht… Ich bin furchtbar traurig und weiß nicht, wie ich es dir sagen soll…«
Fast heiter antwortete sie: »Du hast es mir bereits gesagt, Hans. Ich begreife dich; es ist wohl ein unmenschliches Ansinnen, dich aus deinem Lebenskreis herausreißen zu wollen.«
Verwundert, aber auch erleichtert fragte ich: »Kannst du Gedanken lesen, Aul? Ich habe dir bis jetzt noch kein Wort gesagt.«
Sie machte sich an der Heizlampe zu schaffen, kniete davor und regulierte etwas. Ihr langes Haar fiel über ihre Schultern. Ohne sich umzudrehen, antwortete sie: »Als du mir von deinem Spaziergang durch die Stadt erzähltest, ahnte ich die Ursache deiner Stimmung. Manchmal wird eine große Freude aus der Verzweiflung geboren…«
Sie setzte sich wieder neben mich, lehnte den Kopf an meine Schulter. »Es ist gut, daß du dich nicht von Rücksichten leiten läßt«, setzte sie ihre Überlegung nüchtern fort. »Wie schrecklich wäre es, wenn wir mit einer Lüge an Bord gingen.« Die Sachlichkeit und Gelassenheit, mit der sie mir ihre Ansicht auseinandersetzte, hätte Anlaß sein müssen, mich zu freuen. Ich war ganz umsonst besorgt gewesen. Aber Aul nahm meinen Entschluß zur Kenntnis, als wäre es selbstverständlich, daß wir uns für immer trennten. Ihre Indolenz verstimmte mich.
»Wie ich sehe, macht es dir nicht viel aus, daß ich hier bleibe.«
Aul antwortete nicht.
»Sternschnuppchen, ein Wort von dir, und der Transporter landet Tage oder Wochen später…«
»Was würde es ändern? Wozu Unwiderrufliches hinausschieben?«
Auch hierin hatte sie recht. Ob Tage oder Wochen – es würde nur die Trennungsstunden verlängern. Doch woher nahm sie auf einmal diese quälende Selbstbeherrschung und kühle Versachlichung? War alles, was wir uns gesagt, was wir füreinander empfunden hatten, für sie vergessen? Mir ging der Gedanke an die unwiderrufliche Trennung von ihr unter die Haut. Jetzt, da die Stunde unaufhaltsam näher rückte, wurde mir bewußt, wieviel sie mir bedeutete. Es tat mir weh, nicht ein Wort des Bedauerns von ihr zu hören. Ich wollte ihr meine Empfindungen ausdrücken, doch ihr Verhalten irritierte mich; ich fand nicht die Worte, die meine Gefühle wiederzugeben vermochten.
Fritzchen tappte plötzlich herein, meldete monoton die Bahndaten des Transporters. Aul nahm sie ohne Kommentar zur Kenntnis und schickte ihn wieder hinaus.
Schweigen. Hatten wir uns nichts mehr zu sagen? Das Ticken der Kuckucksuhr im Nebenzimmer machte mich nervös. Ich stand auf, ging hinaus und brachte die Uhr zum Stillstand. Schade, daß man nicht auch die Zeit anhalten kann, kam es mir in den Sinn, jene Augenblicke des Glücks, die niemals wiederkehren… Als ich in die Stube zurückkehrte, geriet ich für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Aul lag auf dem Sofa, hatte das Gesicht im Kopfkissen vergraben und weinte hemmungslos. Niemals hatte ich sie so bebend und erschüttert gesehen. Ratlos setzte ich mich zu ihr.
Uns hatten die Freuden des Lebens miteinander verbunden, nun vereinte uns der Schmerz der Trennung. Er forderte unsere Disziplin heraus, zwang die Vernunft, unsere Gefühle im Zaum zu halten. Viel bedurfte es
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