Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
sagen zu wollen, konnte sich aber nicht entscheiden, was, und im nächsten Moment war Jerry um die Ecke verschwunden.
Es wurde nun dunkel. Schon in guten Zeiten gab es hier nicht viele Taxis – momentan gar keine mehr, was eh nicht wichtig war, denn er hatte ohnehin kein Geld. Die U-Bahn. Wenn sie in Betrieb war, war es der schnellste Weg nach Bethnal Green. Und das Fahrgeld konnte er sicher irgendwo schnorren. Irgendwie. Er humpelte jetzt wieder, grimmig und entschlossen. Er musste nach Bethnal Green, bevor es dunkel war.
ES WAR ALLES so anders. Wie das restliche London. Häuser, die beschädigt worden waren, halb repariert, verlassen, andere nicht mehr als eine geschwärzte Mulde oder ein Trümmerhaufen. Die Luft war voller Kohlenstaub, dem Staub der Steine; es roch nach Paraffin und heißem Fett, stank ätzend nach Kordit.
Die Hälfte der Straßen hatte keine Schilder mehr, und er kannte sich in Bethnal Green obendrein leider nicht besonders gut aus. Er hatte Dollys Mutter nur zweimal besucht. Das erste Mal, um ihr mitzuteilen, dass Dolly und er davongelaufen waren, um heimlich zu heiraten. Damals war sie absolut nicht begeistert gewesen, die gute Mrs. Wakefield, aber sie hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht, auch wenn diese Miene so aussah, als hätte sie an einer Zitrone gelutscht.
Das zweite Mal war gewesen, als er sich bei der RAF verpflichtet hatte; er war allein zu ihr gegangen, um es ihr zu sagen und um sie zu bitten, sich um Dolly zu kümmern, während er fort war. Sie war kreidebleich geworden. Sie kannte die Lebenserwartung der Piloten genauso gut wie er. Aber sie hatte gesagt, sie sei stolz auf ihn, und ihm lange die Hände gedrückt, bevor sie ihn gehen ließ. »Komm zurück, Jeremiah. Sie braucht dich«, war alles gewesen, was sie dann noch sagte.
Er marschierte weiter, wich den Kratern auf der Straße aus, fragte sich durch. Es war jetzt fast vollständig dunkel; er konnte nicht viel länger auf der Straße bleiben. Seine Nervosität ließ ein wenig nach, als er Vertrautes zu sehen begann. Fast da, er war fast da.
Und dann setzten die Sirenen ein, und Menschen begannen aus den Häusern zu strömen.
Er wurde von der Menge weitergeschubst, wurde genauso von ihrer kaum gebremsten Panik weitergeschoben wie von ihren Körpern. Es gab Geschrei, Leute riefen nach verloren gegangenen Familienmitgliedern, Luftschutzhelfer brüllten Anweisungen und schwenkten ihre Taschenlampen, ihre flachen weißen Helme blass wie Pilze im Dämmerlicht. Und über allem durchbohrte ihn die Luftschutzsirene wie ein angespitzter Draht, schob ihn auf ihrer Spitze die Straße entlang, ließ ihn gegen andere prallen, die ebenso am Haken der Angst zappelten.
Die Flutwelle spülte sie um die nächste Ecke, und im Licht der Taschenlampe eines Helfers sah er den roten Kreis mit dem blauen Streifen über dem Eingang der U-Bahn-Station. Er wurde hineingesaugt, durch plötzliche Helle befördert, die Treppe hinunter, noch eine, auf einen Bahnsteig, tief in die Erde, in Sicherheit. Und die ganze Zeit schallte das Heulen und Stöhnen der Sirenen durch die Luft, kaum gedämpft durch das Erdreich über ihm.
Luftschutzhelfer waren in der Menge unterwegs und schoben die Leute an die Wände, in die Tunnel, fort von der Gleiskante. Er stieß gegen eine Frau mit zwei Kleinkindern, nahm ihr eins – ein kleines Mädchen mit runden Augen und einem blauen Teddybären – aus dem Arm und schob sich mit der Schulter in die Menge, um Platz für sie zu schaffen. Er fand eine kleine Nische in einer Tunnelmündung, schob die Frau hinein und gab ihr das kleine Mädchen zurück. Ihr Mund formte ein Danke, doch er konnte sie nicht hören, zu laut waren die Leute, die Sirenen, das Ächzen, das …
Über ihnen erscholl plötzlich ein gewaltiger Knall, der die Station erbeben ließ, und die Menge verstummte abrupt, während sich sämtliche Blicke auf die hohe Gewölbedecke über ihnen richteten.
Die Kacheln waren weiß, und vor ihren Augen erschien plötzlich zwischen zwei Reihen ein schwarzer Spalt. Die Menge keuchte auf, lauter als die Sirenen. Der Riss schien zu enden, zu zögern – und dann trennte er plötzlich die Kacheln im Zickzack voneinander.
Er richtete den Blick auf den Boden unter dem wachsenden Riss, um zu sehen, wer sich dort befand – die Leute, die noch auf der Treppe waren. Das Gedränge am Fuß der Treppe verhinderte jedes Vorankommen, denn alles war vor Schreck erstarrt. Und dann sah er sie, auf halber Höhe der
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