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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Anblick ließ das Blut in seinem Herzen gerinnen. Blindlings tastete er nach dem schmiedeeisernen Geländer, um nicht hinzufallen, doch es war nicht mehr da.
    Natürlich nicht, sagte sein Verstand völlig ruhig. Es ist wegen des Krieges fort, nicht wahr? Eingeschmolzen für den Flugzeugbau. Für Bomben.
    Sein Knie gab ohne Vorwarnung nach, und er fiel auf beide Knie, ohne den Aufprall zu spüren, denn die leise, unverblümte Stimme in seinem Kopf übertönte das schmerzhafte Knirschen seiner schlecht verheilten Kniescheibe.
    Zu spät. Du bist zu weit gegangen.
    »Mr. MacKenzie, Mr. MacKenzie!« Er blinzelte den verschwommenen Fleck über ihm an, ohne zu begreifen, was es war. Doch etwas zupfte an ihm, und er holte Luft, die ihm rau in die Lunge fuhr, ein merkwürdiges Gefühl.
    »Setzen Sie sich doch hin, Mr. MacKenzie.« Die drängende Stimme war noch da, und Hände – ja, es waren Hände – zupften an seinem Arm. Er schüttelte den Kopf, kniff fest die Augen zu, dann öffnete er sie wieder, und der runde Fleck verwandelte sich in das Hundegesicht des alten Mr. Wardlaw, dem der Laden an der Ecke gehörte.
    »Ah, so ist es besser.« Die Stimme des alten Mannes klang erleichtert, und die nervöse Anspannung wich ihm aus dem faltigen Gesicht. »Sie hat’s aber erwischt, was?«
    »Ich …« Er war zu keinem Wort in der Lage, doch er wies mit der Hand auf die Trümmer. Er hatte zwar nicht das Gefühl zu weinen, doch sein Gesicht war feucht. Die Falten in Wardlaws Gesicht vertieften sich sorgenvoll; dann begriff der alte Lebensmittelverkäufer, was er meinte, und seine Miene erhellte sich.
    »Oje!«, sagte er. »Oh nein! Nein, nein, nein – sie leben noch, Sir. Ihrer Familie fehlt nichts! Haben Sie mich gehört?«, fragte er ängstlich. »Bekommen Sie Luft? Soll ich Ihnen vielleicht Riechsalz holen?«
    Jerry kam erst nach mehreren Versuchen auf die Beine, weil ihm sowohl sein Knie als auch Mr. Wardlaws ungeschickte Hilfsversuche im Weg waren, doch als er schließlich aufrecht stand, hatte er gleichzeitig die Sprache wiedergefunden.
    »Wo?«, keuchte er. »Wo sind sie?«
    »Ihre Frau ist nach Ihrer Abreise mit dem Kleinen zu ihrer Mutter gezogen. Ich weiß nicht mehr genau, was sie gesagt hat, wohin …« Mr. Wardlaw drehte sich um und zeigte vage in Richtung des Flusses. »War es Camberwell?«
    »Bethnal Green.« Jerrys Verstand war wieder da, obwohl er sich immer noch fühlte, als sei er ein Kiesel, der unsicher am Rand eines bodenlosen Abgrundes umherrollte. Er versuchte, sich den Staub aus den Kleidern zu klopfen, doch seine Hände zitterten. »Sie wohnt in Bethnal Green. Sind Sie sicher – sind Sie sicher, Mann?«
    »Ja, ja.« Mr. Wardlaw war sehr erleichtert. Er lächelte und nickte so heftig, dass sein Kinn wackelte. »Sie sind umgezogen, nachdem – das muss über ein Jahr her sein, kurz nachdem Sie … kurz nachdem Sie …« Das Lächeln des Alten verblasste abrupt, und sein Mund öffnete sich langsam, ein wabbelndes schwarzes Loch des Grauens.
    »Aber Sie sind doch tot, Mr. MacKenzie«, flüsterte er und wich zurück, die Hände vor sich erhoben. »Oh Gott. Sie sind tot.«
    »DEN TEUFEL bin ich, den Teufel bin ich, den Teufel bin ich!« Er bemerkte das erschrockene Gesicht einer Frau, und er hielt abrupt inne und schnappte nach Luft wie ein gestrandeter Fisch. Er hatte sich seinen Weg über die zerstörte Straße gebahnt, die Fäuste geballt und wieder geöffnet, humpelnd und stolpernd, und dabei sein ganz persönliches Credo vor sich hin gemurmelt wie die Ave-Maria eines Rosenkranzes. Vielleicht jedoch etwas weniger leise, als er dachte.
    Er blieb stehen und lehnte sich keuchend an die Marmorfront der Bank of England. Er war schweißüberströmt, und sein rechtes Hosenbein war von seinem Sturz mit getrocknetem Blut verschmiert. Sein Knie pulsierte im Rhythmus seines Herzens, seines Gesichtes, seiner Hände, seiner Gedanken. Sie leben noch. Und ich auch.
    Die Frau, die er erschreckt hatte, stand ein Stück weiter und sprach mit einem Polizisten; sie drehte sich um und zeigte auf ihn. Sofort richtete er sich kerzengerade auf. Biss die Zähne zusammen und zwang sein Knie, sein Gewicht zu tragen, während er wie ein Offizier über die Straße schritt. Das Letzte, was er ausgerechnet jetzt wollte, war, wegen Trunkenheit festgenommen zu werden.
    Er marschierte an dem Polizisten vorbei, nickte höflich und tippte sich in Ermangelung einer Mütze an die Stirn. Der Polizist zog ein verblüfftes Gesicht, schien etwas

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