Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
schwarzen Samtturban aus.
»Ich will – ich muss mit ihr sprechen. Sofort.«
Der Arzt öffnete automatisch den Mund, um zu protestieren, doch dann blickte er sich nachdenklich um.
»Nun … aber seid vorsichtig, damit Ihr sie nicht …« Doch Michael hatte das Schlafzimmer bereits betreten und stand neben dem Bett.
Sie war blass. Sie waren immer blass gewesen, Lillie und Léonie, mit dem sanften Glanz von Sahne und Marmor. Dies hier war die Blässe eines Froschbauchs, eines verwesenden Fischs, der auf dem Strand verbleicht.
Ihre Augen hatten schwarze Ringe und waren tief eingesunken. Sie ruhten ausdruckslos auf seinem Gesicht, so reglos wie die unberingten Hände, die schlaff auf der Bettdecke lagen.
»Wer?«, sagte er leise. »Charles?«
»Ja.« Ihre Stimme war so dumpf wie ihre Augen, und er fragte sich, ob ihr der Arzt ein Betäubungsmittel gegeben hatte.
»War es seine Idee, mir das Kind anzuhängen? Oder deine?«
Jetzt wandte sie den Blick ab, und ihre Kehle bewegte sich.
»Seine.« Ihr Blick richtete sich wieder auf ihn. »Ich wollte es nicht, Michel. Nicht – nicht dass du mich anwiderst, das nicht …«
» Merci «, murmelte er, doch sie fuhr fort, ohne ihn zu beachten.
»Du warst Lillies Mann. Ich habe sie nicht um dich beneidet«, sagte sie unverblümt, »aber ich war neidisch auf das, was ihr gemeinsam hattet. So konnte es zwischen dir und mir nicht sein, und ich habe sie nicht gern verraten. Aber …« Ihre ohnehin bleichen Lippen pressten sich so fest aufeinander, dass sie nicht mehr zu sehen waren. »Mir blieb nicht viel anderes übrig.«
Er musste zugeben, dass das stimmte. Charles konnte sie nicht heiraten; er hatte eine Frau – und Kinder. Ein uneheliches Kind zu bekommen war zwar in den höheren Kreisen bei Hofe kein großer Skandal, doch die Galantines zählten zur aufkommenden Bourgeoisie, wo Respektabilität beinahe genauso sehr zählte wie Geld. Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie schwanger war, standen ihr zwei Wege offen: schnell einen willigen Ehemann zu finden oder … Er versuchte, nicht zu sehen, dass eine ihrer Hände sacht auf der leisen Rundung ihres Bauches lag.
Das Kind … Er fragte sich, was er getan hätte, wenn sie zu ihm gekommen wäre und ihm die Wahrheit gesagt hätte, wenn sie ihn gebeten hätte, ihn um ihres Kindes willen zu heiraten. Doch sie hatte es nicht getan. Und auch jetzt bat sie nicht darum. Er konnte sich nicht überwinden, es ihr anzubieten.
Es wäre das Beste – oder zumindest das Einfachste –, wenn sie das Kind verlor. Und das konnte ja immer noch geschehen.
»Ich konnte nicht warten, verstehst du?«, sagte sie, als setzte sie eine Plauderei fort. »Ich hätte ja versucht, jemand anderen zu finden, aber ich dachte, sie wüsste Bescheid. Dass sie es dir sagen würde, sobald sie ein Zusammentreffen arrangieren konnte. Also musste ich es tun, bevor du es herausbekamst.«
»Sie? Wer? Mir was sagen?«
»Die Nonne«, sagte Léonie und seufzte dann tief, als verlöre sie das Interesse. »Sie hat mich auf dem Markt gesehen und ist auf mich zugekommen. Sie hat gesagt, sie müsste mit dir sprechen – dass sie dir etwas Wichtiges sagen müsste. Aber ich habe gesehen, wie sie in meinen Korb geschaut hat, und ihr Gesicht … Ich dachte, ihr müsste klar sein …«
Ihre Augenlider flatterten, vielleicht durch ein Mittel des Arztes, vielleicht vor Erschöpfung. Sie lächelte schwach, doch es galt nicht ihm; ihr Blick schien in weite Ferne gerichtet zu sein.
»Komisch«, murmelte sie. »Charles hat gesagt, es wäre die Lösung für alles, der Graf würde ihm eine solche Menge für sie bezahlen, dass es die Lösung für alles sein würde. Aber was kann denn die Lösung für ein Baby sein?«
Michael fuhr auf, als wären ihre Worte ein Messerstich gewesen.
»Was? Für wen bezahlen?«
»Die Nonne. Ich habe Charles erzählt, dass du aufgewacht bist und es nicht gehen würde, aber er hat gesagt, es wäre egal, weil ihn der Graf dafür bezahlen würde, dass er die Nonne findet, und …«
Er packte sie an den Schultern.
»Die Nonne? Schwester Joan? Was meinst du damit, für sie bezahlen? Was hat Charles dir erzählt?«
Sie protestierte mit einem Jammerlaut. Michael hätte sie gern so fest geschüttelt, dass ihr der Hals brach, doch er zwang sich, seine Hände zurückzuziehen. Sie sank in die Kissen wie eine Blase, aus der die Luft entweicht, und wurde unter der Bettdecke immer flacher. Ihre Augen waren geschlossen, aber er beugte sich über sie und
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