Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
letzten beiden Tage damit zugebracht, sich eine Möglichkeit auszudenken, Léonie niemals wiedersehen oder mit ihr sprechen zu müssen, aber es ging nun einmal nicht anders. Er würde sie sehen müssen.
Doch was sollte er zu ihr sagen?, fragte er sich auf dem Weg zu dem Haus, in dem Léonie mit einer betagten Tante lebte, Eugenie Galantine. Er wünschte, er könnte die Situation mit Schwester Joan besprechen, doch das hätte sich nicht geziemt, selbst wenn sie greifbar gewesen wäre.
Er hoffte, dass ihm im Gehen wenigstens ein Ansatzpunkt einfallen würde, wenn schon keine komplette Grundsatzerklärung. Stattdessen ertappte er sich jedoch dabei, dass er obsessiv die Steinplatten zählte, während er den Marktplatz überquerte, die Schläge der öffentlichen Horloge , als sie drei Uhr anzeigte und – als er nichts anderes mehr zu zählen hatte – seine eigenen Schritte, als er sich ihrer Tür näherte. Sechshundertsiebenunddreißig, sechshundertachtunddreißig …
Doch als er in die Straße einbog, hörte er abrupt auf zu zählen. Im ersten Moment hörte er auch auf zu gehen – dann begann er zu laufen. Im Hause der Madame Galantine stimmte etwas nicht.
Er schob sich durch das Gedränge der Nachbarn und Straßenhändler, die sich um die Eingangstreppe scharten, und packte den Butler, den er kannte, am Ärmel.
»Was?«, bellte er. »Was ist geschehen?« Der Butler, ein hochgewachsener, hohlwangiger Mann namens Hubert, war sichtlich außer sich, doch bei Michaels Anblick beruhigte er sich ein wenig.
»Ich weiß es nicht, Sir«, sagte er, obwohl er mit einem Seitenblick verdeutlichte, dass er es durchaus wusste. »Mademoiselle Léonie … sie ist krank. Der Arzt …«
Er konnte das Blut riechen. Ohne abzuwarten, schob er Hubert beiseite und lief die Treppe hinauf. Dabei rief er nach Madame Eugenie, Léonies Tante.
Madame Eugenie trat aus einem Schlafzimmer, Häubchen und Morgenrock trotz des Aufruhrs makellos.
»Monsieur Michel!«, sagte sie und stellte sich ihm in den Weg, um ihn daran zu hindern, das Zimmer zu betreten. »Es ist wieder gut, doch Ihr dürft nicht eintreten.«
»Doch, das muss ich.« Das Herz hämmerte ihm in den Ohren, und seine Hände waren kalt.
»Ihr dürft aber nicht«, sagte sie entschlossen. »Sie ist krank. Es geziemt sich nicht.«
»Geziemt sich nicht? Eine junge Frau versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen, und Ihr sagt mir, es geziemt sich nicht?«
Ein Dienstmädchen erschien in der Tür, einen Korb mit blutigem Leinen auf dem Arm, doch der Ausdruck des Erschreckens in Madame Eugenies breitem Gesicht war noch vielsagender.
»Ihrem Leben ein Ende setzen?« Der Mund der alten Dame hing einen Moment lang offen, dann schnappte er zu wie das Maul einer Schildkröte. »Wie kommt Ihr denn darauf?« Sie betrachtete ihn mit ausgesprochenem Argwohn. »Und was wollt Ihr eigentlich hier? Wer hat Euch gesagt, dass sie krank ist?«
Der Anblick eines Mannes in einer dunklen Robe, welcher der Arzt sein musste, brachte Michael zu dem Entschluss, dass er nicht viel davon haben würde, wenn er weiter mit Madame Eugenie diskutierte. Er nahm sie sanft, aber bestimmt bei den Ellbogen, hob sie hoch – sie stieß einen kleinen Aufschrei der Überraschung aus – und stellte sie beiseite.
Dann trat er ein und schloss die Tür hinter sich.
»Wer seid Ihr?« Der Arzt blickte überrascht auf. Er war dabei, eine frisch benutzte Aderlass-Schüssel auszuwischen, und sein Koffer lag offen auf dem Sofa des Boudoirs. Léonies Schlafzimmer musste dahinterliegen; die Tür stand offen, und sein Blick fiel auf das Fußende eines Bettes, doch er konnte nicht sehen, wer darin lag.
»Das tut nichts zur Sache. Wie geht es ihr?«
Der Arzt sah ihn scharf an, doch im nächsten Moment nickte er.
»Sie wird es überleben. Was das Kind betrifft …« Seine Hand vollführte eine zweifelnde Geste. »Ich habe mein Bestes getan. Sie hat sich eine große Menge …«
»Das Kind ?« Der Boden verschob sich unter seinen Füßen, und der Traum jener Nacht flutete erneut auf ihn ein, dieses seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte und zugleich vertraut war. Es war das Gefühl einer kleinen, festen Rundung an seinem Rücken; das war es gewesen. Lillie war erst im zweiten Monat gewesen, doch er erinnerte sich nur allzu gut an das Gefühl eines Frauenkörpers zu Beginn einer Schwangerschaft.
»Ist es von Euch? Verzeihung, ich sollte das nicht fragen.« Der Arzt verstaute Schüssel und Aderlassklinge und schüttelte seinen
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