Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
fester.
»Still«, sagte er ganz leise, obwohl sie gar kein Geräusch machte. »Hört.«
Sie lauschte so angestrengt wie möglich – und glaubte, etwas zu hören. Doch was sie hörte, waren Schritte, weit entfernt. Hinter ihnen. Ihr Herz tanzte einen Moment.
»Was … was hört Ihr denn?«, fragte sie. Er blickte auf sie hinunter, jedoch nicht so, als ob er sie tatsächlich sähe.
»Sie«, sagte er. »Die Steine. Meistens summen sie nur. Doch wenn eins der Feuer- oder Sonnenfeste nah ist, beginnen sie zu singen.«
»Tatsächlich?«, sagte sie schwach. Irgendetwas hörte er, und es waren offensichtlich nicht die Schritte, die sie gehört hatte. Sie hatten jetzt innegehalten, als ob der Verfolger wartete, sich vielleicht Schritt für Schritt voranstahl und sich Mühe gab, kein Geräusch zu machen.
War es noch jemand vom Alten Volk? Wenn ja, wollte er nicht gehört werden. Es war kalt hier unter der Erde, doch der Schweiß kroch ihr über den Rücken, und ihr Nacken kribbelte, als malte er sich ein sehr altes, scharfzähniges Wesen aus, das jeden Moment hinter ihr aus der Dunkelheit …
»Ja«, sagte er, und seine Miene war konzentriert. Wieder blickte er sie scharf an, und diesmal sah er sie auch.
»Ihr hört sie nicht«, sagte er im Tonfall der Gewissheit, und sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, flüsterte sie. Ihre Lippen fühlten sich steif an. »Ich … ich höre nichts.«
Er presste die Lippen fest aufeinander, doch im nächsten Moment hob er das Kinn und wies auf einen weiteren Tunnel, in dem etwas auf den Kalk gemalt zu sein schien.
Dort blieb er stehen, um eine weitere Fackel anzuzünden – ihre Flamme war gleißend gelb und stank nach Schwefel –, und in ihrem Licht sah sie den flackernden Umriss der Jungfrau mit einem Engel. Ihr Herz hob sich ein wenig bei diesem Anblick, denn gewiss würden Feen so etwas nicht in ihrem Reich haben.
»Kommt«, sagte er und nahm sie bei der Hand. Die seine war sehr kalt.
MICHAEL ERBLICKTE SIE KURZ, als sie in einen Seitentunnel einbogen. Der Graf hatte eine neue Fackel angezündet, diesmal eine rote – wie machte er das nur? –, und es war nicht schwer, ihrem Schein zu folgen.
Wie weit unten mochten sie im Eingeweide der Erde sein? Er hatte längst den Überblick über die Abzweigungen verloren, obwohl es ihm vielleicht gelingen würde, mithilfe der Fackeln zurückzufinden – vorausgesetzt, sie waren nicht alle niedergebrannt.
Er hatte immer noch keinen anderen Plan, als ihnen zu folgen, bis sie stehen blieben. Dann würde er sich zeigen und … nun, Joan mitnehmen, ganz gleich, was er dazu tun musste.
Den Rosenkranz immer noch um die linke Hand geschlungen, das Taschenmesser in der rechten, schluckte er krampfhaft und schlich in den Schatten hinein.
DIE KAMMER WAR RUND und ziemlich groß. So groß, dass der Fackelschein nicht bis in jeden Winkel drang, doch er beleuchtete das Pentagramm, das in der Mitte auf den Boden gezeichnet war.
Der Lärm schmerzte Rakoczy bis in die Knochen. Selbst wenn er ihn noch so oft hörte, brachte er doch jedes Mal sein Herz zum Rasen und trieb ihm den Schweiß in die Hände. Er ließ die Hand der Nonne einen Moment los, um sich die Handfläche an den Rockschößen abzuwischen, denn er wollte sie nicht anwidern.
Sie sah ängstlich aus, aber nicht panisch, und wenn sie es hörte, dann würde sie doch … Plötzlich bekam sie große Augen und stieß einen leisen Aufschrei aus.
»Wer ist denn das ?«, fragte sie.
Er fuhr herum und sah Raymond, der anscheinend aus dem Nichts gekommen war, seelenruhig in der Mitte des Pentagramms stehen.
» Bonsoir, mademoiselle «, sagte der Frosch und verbeugte sich höflich.
»Äh … bonsoir «, erwiderte das Mädchen schwach. Sie versuchte zurückzuweichen, und Rakoczy packte sie am Handgelenk.
»Was zum Teufel macht Ihr hier?« Rakoczy schob sich zwischen Raymond und die Nonne, ohne jedoch seinen Griff zu lockern.
»Höchstwahrscheinlich dasselbe wie Ihr«, erwiderte der Frosch. »Möchtet Ihr mir Eure petite amie nicht vorstellen, Sir?«
Schock, Wut und schiere Verwirrung raubten Rakoczy einen Moment die Sprache. Was wollte das infernalische Geschöpf nur hier? Halt … das Mädchen! Die verlorene Tochter, die er erwähnt hatte; die Nonne war die Tochter! Tabernac , hatte der Frosch dieses Mädchen etwa mit La Dame Blanche gezeugt?
Wie auch immer, jedenfalls hatte er die Nonne gefunden und war ihnen beiden an diesen Ort gefolgt. Er legte die Hand noch fester um den Arm der
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