Zeit der Wut
Wirtschaftskrise Anfang 2008 auslösen würde. Informationen sind die Grundlage der Macht. Informationen offenbaren die Knotenpunkte von Systemen, die mittlerweile viel zu komplex sind, um auf die überholte Opposition von Gut und Böse reduziert zu werden. In den Jahren, die auf den Fall der Mauer folgten, hatte die Theorie vom Flügelschlag eines Schmetterlings im kleinen Kreis der Sicherheitsprofis einen ungeahnten Aufschwung erfahren. Hätte man Lupo allerdings gefragt, was für eine Verbindung zwischen einem hohen Beamten der italienischen Polizei und einem zwei Meter großen Norweger namens Skjell Ola bestehen konnte, der dem aktivistischen Flügel von Greenpeace angehörte, gerade zwei Jahre Haft in einem norwegischen Gefängnis abgebüßt hatte, weil er das Flaggschiff der Walfänger sabotiert hatte, hätte Lupo geantwortet, dass es sich genau darum handelte: um den ewigen Kampf der Guten gegen die Bösen. Und er hätte hinzugefügt: In Augenblicken der Krise muss man überraschende Allianzen schmieden. Und wir befinden uns, dachte Lupo, ganz entschieden in einem Augenblick der Krise. So hatte er zwei Tage lang gemeinsam mit dem Norweger in einem Kajak den Gustavusgletscher umrundet. Zwei Tage, während derer das Satellitentelefon geschwiegen und der Blackberry keine E-Mails empfangen hatte. Skjell Ola hatte ihm bestätigt, dass auch in seinem Land die Rechten drauf und dran waren, an die Macht zu gelangen – ein weiteres Steinchen in dem beunruhigenden Mosaik –, darüber hinaus war der Ausflug ein großartiges Naturerlebnis gewesen. Schade, dass gerade in diesen beiden Tagen etwas nicht wieder Gutzumachendes passiert war. Er fühlte sich noch immer für Dantinis Tod verantwortlich. Während er auf Darias Anruf wartete, tröstete er sich mit den Aufnahmen, die er am Gletscher gemacht hatte. Das Schauspiel des Grizzlybären, der nervös am Ufer der kleinen Insel auf und ab lief, zwanzig Meter von seinem Schiff entfernt, während die Wale um einen Krillschwarm herum schwammen und im blassen Licht des Sommers in Alaska ihren mächtigen, poetischen Liebesgesang anstimmten, hatte etwas Majestätisches.
– Wir haben es geschafft!
Daria war da. Erhitzt, aufgeregt. In Rom war es so unerträglich heiß, dass sich auf der weißen Bluse unter den Achseln zwei Halbmonde abzeichneten. Lupo, der selbst im Anzug niemals schwitzte (als „perfekten Nicht-Schwitzer“ hatte ihn der Kriminologieprofessor in Quantico bezeichnet und hinzugefügt: „Ich möchte Sie nicht verhören müssen, es wäre sehr schwierig, irgendetwas aus ihnen herauszukriegen“), beschränkte sich darauf, sie mit einem Kopfnicken zu begrüßen.
– Noch immer bei den Bären!
– Was hast du gegen Bären? Es sind wunderbare Tiere. Ich habe beobachtet, wie eine Braunbärin sich mitten in einen Fluss gesetzt hat. Zehn Minuten lang hat sie den Kopf hin und her bewegt, bis sie blitzschnell einen Lachs gefangen hat. Dann hat sie ein Stück gefressen und ihrem Kleinen den Rest zugeworfen, der währenddessen ganz still dagesessen ist … Mutter und Sohn, verstehst du, was ich meine, das sich erneuernde Wunder der Natur … die Mutter, die zum Sohn sagt: „Schau zu, Junge, schau und lerne, so läuft es im Leben“ … Es war wie in einem Cartoon …
– Hör mir zu …
– Ich verstehe, dass du Neuigkeiten für mich hast, die eine gewisse Bedeutung haben. Ich wollte nur den Augenblick der Erkenntnis hinauszögern …
– Du nervst. Hat dir das schon mal jemand gesagt?
– … damit im entscheidenden Augenblick, sagte Lupo unbeirrt und entschlossen, seinen Satz zu Ende zu bringen, mein Geist frei von Vorurteilen ist! Los, worum handelt es sich?
– Wir haben ein Video.
Lupo hörte auf, Theater zu spielen und beugte sich über den Schreibtisch.
– Wie hast du das geschafft?
– Ich würde es als Wunder bezeichnen.
In den zehn Minuten, die zwischen dem Augenblick, in dem Dantini seinen Sohn aufs Karussell gesetzt hatte, und dem Eintreffen des Rettungswagens vergangen waren, hatte die hoch entwickelte Software, derer sich Lupos Einheit bediente, hundertfünfunddreißig Anrufe in der näheren Umgebung des Tatorts registriert. Daria hatte herausgefunden, wer die Inhaber der Handys waren und hatte begonnen sie zu
screenen
. Hundertfünfzehn Personen, die glaubwürdige Erklärungen boten, schieden aus. Weitere elf Personen schieden aus, weil sie die 113 oder andere Notfallnummern angerufen hatten. Die Mitschriften, die die öffentlichen
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